Zwiespältiger Aufbruch

  

Nach Apulien in Süditalien soll es diesmal gehen. Es ist die erste längere Reise ohne MaXXL, unser Reisemobil, das uns in der Vergangenheit große Unabhängigkeit und Flexibilität ermöglichte. Mit ihm konnten wir überall, wo es uns gefiel, spontan die Weiterreise unterbrechen und unsere Zelte aufschlagen. Wird uns das nicht fehlen? Jetzt sind die Unterkünfte vorgebucht und damit der Reiseablauf festgelegt. Vielleicht werden wir aber auch die größere Beweglichkeit mit dem handlichen PKW genießen. Wir müssen jetzt nicht mehr am Stadtrand auf einem großen Busparkplatz Halt machen, sondern können direkt ins Zentrum hinein fahren. Keine Panik mehr vor Altstädten und engen Gassen. Kein ängstlicher Blick nach oben, ob eventuell ein Balkon behindern könnte. Auch ein Stadtbesuch am Abend ist nun ohne Organisationsaufwand machbar. Werden wir die Sicherheit und den Komfort unseres Heims auf vier Rädern vermissen? Unsere eigene Ordnung? Das umfassende Equipment? Oder werden wir es schätzen, leicht zu reisen? Können wir uns noch einlassen auf wechselnde Unterkünfte und unterschiedliche Gastgeber? Momentan erscheint uns gerade das reizvoll. Ist man dadurch nicht näher dran an den Einheimischen? Auf dem Camping- oder Stellplatz trifft man ja doch immer nur Touristen. Die Gespräche mit ihnen kreisen stets um die gleichen Themen: Fachsimpelei über die Fahrzeuge, Tipps für das nächste Ziel oder die preiswerteste Werkstatt, oft verbunden mit dem Hinweis, man komme schon seit Jahren hierher.

  

Ein weiterer Aspekt, der unsere Reise etwas beschwert, ist die Tatsache, dass es die erste nach Peters OP ist. Ist er schon wieder stabil belastbar für die chaotische Fahrweise der Italiener? Den täglichen Wechsel? Für die mit dem Reisen auch immer einhergehenden Enttäuschungen und Stress-situationen?

 

Und noch eine Sorge lastet auf uns. Wie wird unser Hund mit dieser neuen Art zu reisen klar kommen? Zwar haben wir alle Vorkehrungen getroffen, um die Tour auch für ihn annehmlich zu gestalten, aber wir sind doch etwas skeptisch, ob ihm das Fahren im beengten PKW bekommen wird. Zumal ihm momentan seine Arthrose wieder schwer zu schaffen macht und er stark hinkt. Seine gepackte Reisetasche steht bereit. Haben wir auch an alles gedacht, damit er sich wohl fühlt? Schon bei der Recherche der Unterkünfte im Internet stand Kara im Fokus. Die Auswahl sinkt nämlich beträchtlich, gibt man als Kriterium „Hunde erlaubt“ ein. Städte schieden als Alternative schon von Vorneherein aus, weil es dort mit dem Gassigang schwierig wird. Unsere Präferenz lag daher auf „Ferien auf dem Bauernhof“. Das diesbezügliche Angebot ist in Italien sehr groß. Wobei dies in der Regel keine großen landwirtschaftlichen Betriebe sind. Offensichtlich reicht es aus, ein paar Obst- oder Olivenbäume hinterm Haus zu haben, um als Agriturismo zu gelten.

 

Mit gemischten Gefühlen machen wir uns also auf den Weg. Erster Stopp ist Murr an der Murr, gerade mal 180 km von Idstein entfernt. Trotz einer ausgiebigen Pause nach etwa der Hälfte der Strecke ist Kara bei der Ankunft in Murr so steif, dass sie kaum aus dem Auto kommt. Peter hilft ihr aus dem Fahrzeug und leidet sichtlich mit. Die Unterkunft ist gut und die Gastgeber sind freundlich und lebendig. Silas, unser jüngster Enkel, wird heute im Gymnasium eingeschult, und da wollen wir dabei sein. Aron, der Älteste, war so freundlich, uns sein Zimmer für zwei Nächte zu überlassen. So können wir sofort das Leben aus der Reisetasche und das Improvisieren üben. Um es vorweg zu nehmen: Der Einstieg klappt gut!

 

Selbstbewusst und ohne große Nervosität bringt Silas das kurze Einschulungsritual, das wegen der großen Anzahl an neuen Schülern in zwei Tranchen durchgeführt wird, hinter sich. Während die frischen Gymnasiasten anschließend mit ihrer Lehrkraft in den Klassenraum gehen, bedienen sich die Angehörigen in der Aula am reichhaltigen Kuchenbuffet. Nach etwa einer Stunde kehrt Silas zurück und meint, die Lehrerin sei ganz okay und ob man jetzt nach Hause fahren könne.

 

Am nächsten Morgen, der Tag der Familie beginnt um 6 Uhr, klopft es an unserer Tür. „Mit Kara stimmt etwas nicht“, meint Daniela besorgt. „Sie liegt unbeweglich da, steht nicht auf und guckt ganz traurig, so als hätte sie Schmerzen.“ Sofort sind wir auf den Beinen. Mit hängenden Ohren und großen Augen schaut uns das Tier an, als ob es sagen wolle: „Helft mir doch“. Beim zweiten Hinschauen haben wir allerdings den Eindruck, dass es lediglich verstört ist. So viele Menschen zu so früher Stunde ist es einfach nicht gewöhnt. Trotzdem machen wir uns Sorgen und kommen immer mehr zu der Überzeugung, dass Kara das Reisen im PKW für die Dauer von fünf Wochen nicht gut verkraften wird. Peter fasst sich ein Herz und fragt Daniela und Christian, ob sie sich vorstellen könnten, sie während unserer Abwesenheit zu betreuen. Spontan stimmen sie zu und wir sind sehr erleichtert und dankbar. Sowohl Christian, als auch Daniela, Alina und Silas haben Erfahrung im Umgang mit Kara. Vor allem Alina wird sich rührend um sie kümmern, da sind wir uns ganz sicher. Sie führte den Hund schon an der Leine, als sie selbst noch wackelig auf ihren Beinen lief. Obwohl wir unser vierbeiniges Familienmitglied in guten Händen wissen, fällt uns der Abschied natürlich schwer.

 

Einer nostalgischen Anwandlung folgend, haben wir uns als erste Unterkunft ein einfaches Gästehaus gleich hinter dem Gotthard-Tunnel in der Nähe von Airolo ausgesucht. Auf dem Parkplatz der Seilbahn von Airolo übernachteten wir nämlich früher immer mit dem Wohnmobil auf dem Weg in den Süden. In der nahen Caseficio deckten wir uns dann regelmäßig mit Käse für die erste Zeit der Reise ein. Genau so wollen wir es wieder machen, nur eben ohne Reisemobil. Im goldenen Abendlicht fahren wir durch das idyllische Seitental Bedretto und erreichen schließlich das sehr gepflegte Hotel.

 

 

Durch die alte Holzbauweise wirkt es richtig heimelig. Das dazugehörige Gästehaus ein paar Hundert Meter weiter hat dann aber eher den Charakter einer Jugendherberge. Das würde uns grundsätzlich nicht stören, wenn nicht der Preis in solch krassem Missverhältnis zum Qualitätsstandard stünde. Das Zimmer ist klein und riecht muffig. Auch bei der leckeren Pizza am Abend vergeht uns beim Anblick der Preise fast der Appetit. Sie kostet das Dreifache wie in Deutschland. „Die spinnen, die Schweizer!“, ist unser Resümee, frei nach Asterix. Noch bin ich nicht in entspannter Urlaubsstimmung, sondern liege die halbe Nacht wach und beobachte die Lichtspiele, die das in wechselnden Farben leuchtende Display meines Smartphones an die Wand zaubert.

 

Knapp 600 km weiter der nächste Stopp. Pesaro, eine Touristenhochburg an der Adria. Für uns daher eigentlich kein interessanter Zwischenhalt, aber die Stadt liegt von der Entfernung optimal zwischen Gotthard und unserem ersten Ziel in Apulien, der Halbinsel Gargano. Das Bed&Breakfast befindet sich mitten in der Ortschaft in einer ruhigen Straße und ist reizend. Die Wirtin, eine zierliche, sehr braun gebrannte Frau Mitte vierzig, erinnert mich an Twiggy. Mit einem Lachen empfängt sie uns. „My english is perfect with google“, meint sie und zeigt auf ihr Smartphone. Wir werden mit einem Stadtplan und Tipps fürs Abendessen versorgt. Dabei muss immer wieder der google-Übersetzer helfen. Alles ist sehr geschmackvoll und modern in grau-weiß eingerichtet und liebevoll dekoriert. Sogar die Topfpflanzen passen mit ihren rosa Blüten zur übrigen Dekoration. Überall im Haus sind Zitate des Komponisten Rossellini an die Wände geschrieben. Der Musiker wurde in Pesaro geboren. Wir speisen mit Blick über das Meer auf der Terrasse eines futuristischen Gebäudes, das an ein Schiff erinnert. Eine schöne Urlaubseinstimmung.

 

 

 

Bummeln, baden und „mucho mangiare“

 

Früh machen wir uns am nächsten Tag auf den Weg. Um schnell voran zu kommen, fahren wir über die überraschend gute und nur schwach frequentierte Autobahn. Aber es ist eine langweilige Strecke, die uns ziemlich schnell ermüdet. Außerdem merken wir jetzt, dass wir nach den Ereignissen in diesem Jahr noch nicht wieder voll leistungsfähig sind. Die Fahrerei strengt uns nämlich mächtig an. Mit häufigen Pausen versuchen wir unsere Müdigkeit zu vertreiben. Vielleicht rasten wir aber auch deshalb so oft, weil es uns Spaß macht, zu improvisieren. Auf unserem kleinen Campingkocher wird Kaffee gebrüht und die Kühlbox dient als Arbeitsfläche um Tomate-Käse-Brötchen zuzubereiten.

 

 

Da wir aus Erfahrung wissen, dass die Ausschilderungen in Italien manchmal chaotisch sind, und unsere Unterkünfte meist etwas abseits auf dem Land liegen (weil wir ja, man erinnere sich, Kara eingeplant hatten), haben wir die jeweiligen GPS-Daten vorsorglich schon zu Hause über Google-Earth eruiert. So finden wir unsere erste Unterkunft auf der Halbinsel Gargano problemlos. Sie heißt übersetzt „Weiße Maulbeere“ und ist ein sehr großzügig und schön konstruiertes Anwesen, das allerdings etwas vernachlässigt wirkt. Das große Zimmer mit eigener Terrasse und die quirlige Herzlichkeit von Michele lassen dieses kleine Manko schnell vergessen. Der Betreiber war früher als Koch in Düsseldorf tätig und baute sich mit diesem Agriturismo nach ersten gesundheitlichen Problemen eine neue Existenz auf. Von Landwirtschaft ist allerdings außer einem ungepflegten Gemüsefeld und ein paar Oliven- und Feigenbäumen nicht viel zu sehen. Wir erfahren, dass seine drei Söhne in Norditalien studieren oder arbeiten und seine Frau ebenfalls einem Job nachgeht. So betreibt Michele das Gästehaus mehr oder weniger allein, was man an den vertrockneten Kübelpflanzen und den vielen kleinen Baustellen auch sieht. Trotz seiner vielfältigen Aufgaben bleibt ihm aber noch Zeit, köstliche Feigenmarmelade zu kochen, von der er uns zum Abschied ein Glas schenkt. Auch einen riesigen Kürbis will er mir stolz überreichen. Nur mit Mühe kann ich ihn überzeugen, dass die medizinballgroße Frucht im Fahrzeug etwas hinderlich wäre und bei dieser Hitze auch kaum eine vierwöchige Reise überleben würde.

 

 

Der Gargano, der Sporn des italienischen Stiefels, gehört geologisch gesehen zum gegenüber liegenden Kroatien. Für den Reisenden hält er einige Highlights parat: Faszinierende Grotten, Reste eines alten Hochwaldes, idyllische Buchten, weitläufige Strände und bezaubernde Städte. Die geplante Schiffstour zu einigen der Grotten muss leider ausfallen, weil ich an einer leichten Blasenentzündung leide und daher recht häufig die Toilette aufsuchen muss. Die gibt es aber auf den kleinen Booten nicht. Ein bisschen traurig bin ich schon, dass ich mir keinen Eindruck verschaffen kann von der Grotta dei Pomodori, deren Felsen durch Seeanemonen rot leuchten. Als Alternative fahren wir mit dem Auto quer durch den Forestra Umbra. Auf steilen Serpentinenstraßen geht es über Monte Sant´Angelo hinauf. Der Ort war über Jahrhunderte ein wichtiges europäisches Pilgerziel. Auch jetzt noch, zum Beispiel heute am Sonntag, kommen viele Gläubige in die Grottenkirche, die dem Erzengel Michael gewidmet ist. Auch aufgrund seiner weißen, gleichmäßigen Häuser und malerischen Gassen ist das Städtchen einen Besuch wert. Uns wird der Trubel aber bald zu viel. Wir schlecken ein Eis und setzen dann unseren Ausflug fort.

 

 

Aufgrund der vielen Schlaglöcher und engen Kurven kommen wir nur langsam voran. Doch schon bald umgibt uns würziger Waldduft. Bei der noch herrschenden Hitze ein angenehm kühler Ort. Durch die dichten Laubkronen der alten Buchen, Eichen und Kastanien regnet es Licht. Viele Picknickplätze laden zur Rast ein. Leider hat sich dort auch allerhand Müll angesammelt, so dass uns die Lust auf eine kleine Wanderung und eine zünftige Brotzeit vergangen ist. Aber das rein visuelle Naturerleben während einer Autofahrt mit nur kurzen Stopps schafft es natürlich nicht, uns wirklich zu berühren und Spuren des märchenhaften Waldes in unseren Seelen zu hinterlassen. Dazu hätten wir den Boden unter unseren Füßen spüren, das Rascheln des Laubes hören, die Ruhe empfinden müssen.

 

Die nächsten Tage kombinieren wir jeweils Sightseeing mit Strandfeeling. Unser PKW wird zur Umkleidekabine. Da wir zu den Unterkünften immer nur das aktuell Benötigte in einer Tagestasche mitnehmen, bleiben die Reisetaschen mit unserer Kleidung im Fahrzeug. So haben wir bei den Ausflügen immer alles dabei. Tagsüber Sightseeing in Bermudas, am Nachmittag Schwimmen im Bikini und am Abend Essen gehen im Sommerkleid – alles machbar, ohne zum Gästehaus zurückkehren zu müssen. Wir sind richtig stolz auf unsere Flexibilität. Dass die in unserem Alter und nach jahrelangem komfortablen Reisen in einem großen Reisemobil noch möglich ist, überrascht uns selbst und erfüllt uns mit Freude.

 

Auf einem Kreidefelsen thront das malerische Vieste. Mit seinen fabelhaften Panoramen, idyllischen Plätzen und Gassen sowie zahlreichen Geschäften und Restaurants trifft es alle Erwartungen, die man als Tourist an eine süditalienische Stadt hat. Dementsprechend stark frequentiert ist es trotz fortgeschrittener Jahreszeit noch. Zuerst frustriert uns das. Dann gelingt es uns jedoch erstaunlich gut, das Bummeln und Schauen, das Kaffeetrinken und Törtchenessen auch inmitten der Touristenströme zu genießen. Abends trinken wir einen Aperol in einem Café und wundern uns über die reichhaltigen Häppchen, die dazu kostenlos serviert werden. „Eigentlich brauchen wir jetzt gar nicht mehr ins Restaurant zu gehen“, meint Peter und grinst dabei verschmitzt, weil er weiß, dass diese kleinen Schleckereien lediglich dazu geeignet sind, meinen Appetit anzuregen.

 

 

Vieste ist von einer Vielzahl weitläufiger Strände und bezaubernder Badegrotten umgeben. In den kleineren Buchten warten die vielen ungeöffneten Sonnenschirme vergeblich auf Badegäste und verdeutlichen das baldige Ende der Saison.

 

 

An einem Ende des kilometerlangen Sandstrandes della Scialara steht das Wahrzeichen der Stadt, ein 28 m hoher weißer Monolith.

 

 

Am anderen Ende der Bucht machen wir einen Badestopp und kühlen uns bei noch sehr angenehmer Wassertemperatur ab. Nur wenige Gäste haben sich hier niedergelassen. Ein sehr beleibter Herr liegt wie ein gestrandetes Walross auf einem Felsen. Um möglichst nahtlos zu bräunen hat er seine Badehose so weit es eben geht runter gezogen. Sein bestes Stück ist gerade noch bedeckt.

 

 

Unweit von ihm unterhält sich sehr angeregt ein Paar mittleren Alters. Er sitzt mit gegrätschten Beinen hinter ihr und drückt wie ein Physiotherapeut mit dem Handballen immer wieder bestimmte Stellen ihres Rückens. Jetzt macht er eine fließende Bewegung mit der Hand, als ob er sage: „Lass es einfach laufen!“ Sie nickt kurz und redet weiter. Als wir nach einer halben Stunde aufbrechen redet sie immer noch.

 

Zwischen Vieste und Peschici sieht man einige sonderbare, von Seilen gehaltene Pfahlbauten. Lange Holzstangen ragen weit ins Meer hinaus, dazwischen hängt ein großes Netz.

 

 

Diese sogenannten Trabucchi ermöglichen den Fischfang bei jedem Wetter. Dabei wird das Netz über Winden herab gelassen. Oft ist dafür das Balancieren auf den über dem Wasser schwebenden Holzmasten erforderlich. Nur noch wenige Männer beherrschen diese Art des Fischens. Viele Trabucchi werden nicht mehr genutzt und verfallen allmählich. Das Trabucco da Mimi in der Nähe von Peschici ist noch voll funktionsfähig. In dem angeschlossenen Restaurant wollen wir uns am Abend verwöhnen lassen.

 

Bis dahin besichtigen wir Peschici. Auch diese Bilderbuchstadt liegt auf einem Felsen und ist bezaubernd. „Bis zum geplanten Abendessen ist immer noch viel Zeit. Wollen wir noch einen Strandbesuch einschieben?“, schlägt Peter vor. Ganz allein sind wir in der kleinen, reizenden Bucht, planschen im seichten Wasser und genießen die Wärme dieses späten Nachmittags. Nach einer Weile schlendern drei Mütter mit ihren Kindern vorbei und lassen sich in der Nähe nieder. Eine von ihnen ist sehr mager und hat bereits völlig graue Haare. Unruhig rennt und hüpft ihre vielleicht 12 Jahre alte Tochter am Strand entlang. Die Art wie das Mädchen spricht und sich bewegt, lässt vermuten, dass es behindert ist. Jetzt toben alle vier Kinder gemeinsam im Wasser, während die Frauen zusammen sitzen und sich unterhalten. Irgendwann protestieren jedoch die drei jüngeren Kids, weil das behinderte Mädchen mit ihrer Wildheit die Luftmatratze immer wieder zum kentern bringt. Schließlich ruft die Grauhaarige ihre Tochter zurück und legt sich mit ihr etwas weiter entfernt in den Sand. Später fotografieren sich die beiden anderen Frauen selbstverliebt gegenseitig mit ihren Handys. Besonders die eine setzt sich dabei auffällig affektiert in Szene. Wie ein Model räkelt sie sich auf dem Badetuch, streckt Po und Busen in unnatürlicher Pose hervor. Immer wieder schleudert sie mit einer eitlen Kopfbewegung ihre langen Haare lässig über die Schulter. Als alle „Bilder im Kasten“ sind, packen sie zusammen und verlassen mit ihren Kindern die Bucht ohne sich von der Dritten und deren Tochter zu verabschieden.

 

Wir duschen am Strand und kleiden uns in unserem Volvo um. Schnell ein bisschen Schminke ins Gesicht und dann geht es zum urigen Trabucco-Restaurant. Auf Holzplattformen sind auf verschiedenen Stufen die Tische angeordnet. Auf der Ebene über uns dinieren Deutsche, ein jüngeres Paar und ein Herr mittleren Alters. Offensichtlich will der Jüngere dem Älteren imponieren, denn er gibt an „wie e Dutt voll Migge“, wie der Hesse sagt. Seine Weltgewandtheit beweist er schließlich mit der Empfehlung: „Die haben hier exzellenten Vino und Meeresfrüchte jeder Art. Mucho mangiare!“ Für unser Empfinden ist das Essen gemessen an der Qualität überteuert. Doch bei dieser Lokation zählt vor allem die Atmosphäre. Lichterketten, Kerzen, der würzige Salzduft des Meeres, das träge Schwappen der Wellen und eine laue Sommerbrise - romantischer geht es wirklich nicht mehr. Noch die Sonnenwärme des Nachmittags auf meiner Haut, macht sich ein wohliges Gefühl in mir breit. Oder ist es der Wein? Oder einfach das tiefe Glücksempfinden über das Beieinanderseins nach diesen schweren Wochen?

 

 

 

Höhenflüge und Beinah-Abstürze

  

Unser nächstes Gästehaus ist ein alter Herrensitz. Es liegt im mittleren Teil von Apulien, nördlich von Bari in der Nähe der Agrarstadt Andria. Landschaftlich sind wir von der Gegend etwas enttäuscht. Kilometerlang nichts als junge Olivenbäume und Wein. Zwischen den Plantagen schmale, vermüllte Straßen. Über die beeindruckend lange, von hohen Zypressen gesäumte Einfahrt erreichen wir die bezaubernde Unterkunft. Das eigentliche Herrenhaus wird nicht mehr genutzt. Seine Unterhaltung war einfach zu teuer, erklärt uns später Cristina, die freundliche Betreiberin. Die Gästezimmer sind in diversen anderen Gebäuden untergebracht. Da wir ursprünglich mit Hund kommen wollten, bekommen wir ein großes Apartment mit Küche, zwei Räumen und einer riesigen Dachterrasse. Der Empfang ist sehr herzlich und uns werden im idyllischen Hof Kaffee, Plätzchen und Trauben serviert. Vier Hunde beschnuppern und begrüßen uns. „Das wäre jetzt purer Stress für Kara“, meint Peter. „Ja, bei den Kindern geht es ihr viel besser“, stimme ich zu.

 

Dass es unserem vierbeinigen Familienmitglied wirklich gut geht, wissen wir aus regelmäßigen Telefonaten und WhatsApp-Nachrichten von den Enkeln. Stolz berichtet Silas, dass er heute ganz allein mit Kara Gassi war. Und Alina schickt ein Video, das zeigt, wie sie dem Tier Kunststücke beibringt. Sogar Daniela, die ja wirklich genug um die Ohren hat, scheint die Muse zu genießen, zu der sie Karas ausgiebiges Schnüffeln zwingt. Nur mit Aron hat der Hund ein Problem und knurrt ihn regelmäßig an. „Wenn ich nachts heimkomme und noch etwas essen will, muss ich mich auf den Fußboden in der Küche setzen. Kara lässt mich nicht ins Wohnzimmer!“, beschwert sich unser ältester Enkel. Wir kriegen nicht raus, woran das liegt. Nach unserer Rückkehr machen wir diverse Experimente. Aron lockt mit Leckerli und Streicheleinheiten. Der Hund nimmt beides dankbar an und – knurrt ihn kurze Zeit später wieder an. Wir begrüßen und umarmen Aron in Karas Beisein. Sie kommt dazu, schnuppert ganz interessiert und – knurrt ihn kurze Zeit später wieder an. Wir sind ratlos.

 

„Es ist noch früh. Lass uns nach Barletta fahren. Dort können wir dann auch essen“, schlage ich vor. „Okay, aber lass uns vorher noch ein wenig die Füße vertreten. Der Garten ist so schön.“ Alte Bäume, zerfallene Mauern, Pergolen, Amphoren und laubbedeckte Plätze. Über allem liegt ein morbider Charme. In den Baumkronen über uns schimpfen die Spatzen. Die Hunde bellen. Aus dem Haus klingt klassische Musik.

 

Der Hafen von Barletta zählt zu den wichtigsten an der Adria. Auch das Castello und die Cattedrale sind sehenswert. In der Cantina della Sfidia ist heute ein Museum untergebracht. Hier sollen im 16. Jahrhundert Franzosen Italiener beleidigt haben, so dass es zu einem Kampf kam, den die Italiener gewannen. Noch heute wird mit einem jährlich stattfindenden Fest an diese Revanche erinnert. Barletta ist eine quirlige Stadt. Uns fallen die zahlreichen Restaurants und szenigen Bars auf, in denen vor allem junge Leute Cocktails schlürfen. Das gibt der Stadt ein junges Flair. Leider öffnen die Restaurants erst zwischen 20 Uhr und 20.30 Uhr. Also nehmen wir einen Aperitif in einer Bar an der Piazza della Sfida. Zwei Fernseher sind aufgestellt und beschallen den Platz mit einer Fußballübertragung. Vor allem junge Männer sitzen hier und verfolgen das Spiel. Bei einem gutem Spielzug wird geklatscht, bei einem schlechtem herzzerreißend gestöhnt. Auch der etwa Zwanzigjährige am Nebentisch lässt sich mitreißen. Seine sportliche Begeisterung hält ihn aber nicht davon ab, nebenbei großes Interesse an einem attraktiven Mädchen hinter ihm zu zeigen. Immer wieder dreht er sich um und sucht Augenkontakt zu der jungen Frau. Wenn sich ihre Augen begegnen, belohnt sie ihn mit einem kleinen Lächeln. Vor uns haben zwei Männer Stuzzichini bestellt, eine gemischte Platte mit allerlei Kleinigkeiten. Jeder der Beiden nimmt eine Bruschetta in die Hand und dann „prosten“ sie sich zu, indem sie die Brote zusammen stoßen.

 

Am nächsten Morgen werden wir von Motorengeräuschen geweckt. Schlaftrunken taumle ich auf unsere Terrasse. Mein Blick fällt auf eine spätsommerliche Morgenidylle. Endlose Reihen mit Olivenbäumen, weiter hinten schließen sich Weinreben an bis zum Horizont. Über dem vielfältigen Grün wabert Morgennebel. Gestört wird diese vorherbstliche Stimmung von Erntefahrzeugen, denn es ist Weinlese. Wenig romantisch werden heute dafür vollautomatische Maschinen eingesetzt.

 

 

Frühstück und Abendessen werden in einem herrschaftlichen Speisesaal mit einem riesigen offenen Kamin serviert. Mit Trauben und Cherrytomaten prall gefüllte Körbe lassen erkennen, dass dies ein landwirtschaftlicher Betrieb ist. Cristina spendiert uns am Abend eine Flasche vom eigenen Wein, dessen Qualität uns überrascht.

 

 

Nun, in der Frühe, tischt sie auf, was ihre nostalgisch blau-weiß gekachelte Küche hergibt. Aromatischer Duft von Frischgebackenem: Foccacia mit Tomaten, süße Kuchen mit Trauben und Feigen, Arme Ritter. Dazu gibt es sahnigen Stracciatella-Käse (eine Art Mozzarella), selbstgemachte Marmelade und Obst. Die Reste packt die liebenswerte Frau in Alufolie und überreicht sie mir mit der Bemerkung „Pranzo“. „Das Mittagessen können wir uns heute sparen“, lächle ich Peter zu und halte die diversen Folienpakete hoch.

 

 

Ein Sightseeing-Muss und absolutes Highlight ist natürlich das Castello del Monte, das auf einem über 500 m hohen Hügel majestätisch thront. Der Staufer Friedrich II. ließ es im 13. Jahrhundert errichten. Ungewöhnlich ist seine achteckige Form. Da Schlossgraben und Verteidigungsanlagen fehlen, wird vermutet, dass der Bau vor allem Repräsentationszwecken diente. Der helle Kalkstein leuchtet in der Sonne und wir sind von der Dimension und Ausstrahlung des Baus beeindruckt. Peter macht Luftaufnahmen mit der Drohne, die besser als jedes Foto die Form des Kastells verdeutlichen. Euphorisch kehren wir zum Auto zurück. „So langsam kommen wir nun doch in den entspannten Reisemodus“, denke ich.

 

 

Wie so oft, liegen Höhe- und Tiefpunkte nah beieinander. Der nächste Drohnen-Flug läuft nämlich nicht so glatt. Wir besuchen Trani. Wieder ein herausgeputztes Städtchen mit einem bezaubernden Hafen, pittoresken Gassen und einer Kirche, die die „Königin der Kathedralen“ genannt wird. Einst stand Trani in ständigem Wettbewerb mit Bari. Als in der Konkurrenzstadt dann die Gebeine des Heiligen Nikolaus eintrafen, hatte Trani das Nachsehen. Doch das änderte sich schnell, als ein griechischer Pilger, er hieß ebenfalls Nikolaus, mit dem Kreuz auf seinen Schultern auf den Stufen der Kirche zusammenbrach. Schon drei Jahre später wurde er heilig gesprochen, und Trani hatte seinen eigenen Heiligen Nikolaus. Ihm zu Ehren wurde die Kathedrale über der bestehenden Kirche gebaut. Sie ist wirklich beeindruckend, nicht zuletzt wegen ihrer Lage direkt am Meer. Sie gilt als Meisterwerk der apulischen Romanik. „Hier ist viel Platz, und jetzt, in der Mittagspause, sind kaum Menschen unterwegs. Da kann nix passieren. Ich mach mal einen Drohnenflug um das Gebäude herum“, beschließt Peter gerade. Schnell hat er das Gerät aktiviert und über der Kirche positioniert. Nun gibt er alle erforderlichen Daten ein, damit die Drohne sie einmal umrundet. Und los geht’s! Wir verfolgen den Flug auf dem Bildschirm des Handys und sind ganz begeistert. „Das sieht ja toll aus!“ Dann passiert es. „Kollision“ meldet das Gerät und auf dem Bildschirm sieht man nur noch Taumeln. Himmel, Mauer, Geländer, Himmel, Mauer – dann hat sich die Drohne gefangen und ist wieder manövrierfähig. Peter reagiert sehr schnell und bringt sie schließlich sicher zu Boden. Mir schlottern die Knie. Bei einem Sturz auf das Dach der Kathedrale, wäre sie für immer unerreichbar verloren gewesen. Leider hat sie einen kleinen Schaden davon getragen, der aber am Abend unter fachkundiger telefonischer Anleitung unseres Schwiegersohnes schnell behoben wird.

 

 

Wie aus dem Bilderbuch

 

„Hier ist die Landschaft eindeutig schöner. Und schau doch die putzigen Trulli! Man glaubt, jeden Augenblick müssten Schneewittchen und die sieben Zwerge heraustreten!“, lacht Peter und bringt auch mich mit dieser Vorstellung zum Lachen. „Ja, die Schaufel über der Schulter und die Laterne in der Hand“, fabuliere ich weiter. „Und dabei ein lustiges Liedlein trällernd“, spinnt Peter den Faden weiter. Wann waren wir das letzte Mal so herrlich albern?

 

 

Von Trockenmauern begrenzte Straßen führen durch das liebliche Valle d´Itria. Mandel- und Olivenbäume, Oleander und Bougainvillea. Und eben diese Zipfelmützenhäuser, die keiner europäischen Bautradition zugeordnet werden können. Ursprünglich sind sie aus der Not heraus entstanden. Um den Boden überhaupt bearbeiten zu können, mussten die Landwirte nämlich erst einmal die vielen Kalksteine aus der Erde lesen. Sie schichteten sie am Feldrand ohne Mörtel zu Mauern oder zu kegelförmigen Gebäuden auf. Gekrönt wurde das Gewölbe der Häuser von einem pinnacolo (Spitze) in möglichst ausgefallener Form. Je aufwändiger dieser war, umso mehr Wohlstand wurde der Familie zugeschrieben.

 

 

Auf die Dächer wurden mit weißer Farbe Schutzzeichen gemalt. Sie werden auch heute noch regelmäßig erneuert, obwohl man deren Bedeutung gar nicht mehr kennt.

 

 

Ein Anwesen setzt sich aus mehreren Trulli zusammen, wobei jedes Trullo einen Raum birgt. Gefördert wurde diese Art des Bauens im 17. Jahrhundert durch den Grafen von Conversano, der die vom Königlichen Hof angeordnete Grundsteuer für fest gemauerte Häuser umgehen wollte. Die Trulli konnten vor einer Inspektion abgerissen und später neu errichtet werden. Auch heute werden sie noch gebaut, allerdings nicht mehr in Trockenbauweise. Oft bilden sie komfortable Ferienanlagen. Auch wir sind in einer solchen untergebracht und sind begeistert. Von außen glaubt man gar nicht, wie geräumig die Häuschen sind: Ein großzügiger Schlafraum, ein modernes Bad und eine gut ausgestattete Küche mit Esstisch. Giorgio und seine Mutter begrüßen uns freundlich und betonen, dass man sich gern im Gemüsegarten bedienen dürfe. Das machen wir auch sofort, denn heute wollen wir mal wieder selbst kochen. Die Gelegenheit hierfür ist einfach zu verlockend. An alles wurde gedacht. Sogar Knoblauch, Essig, Öl, Gewürze und Kaffeepulver stehen bereit. Ein Päckchen Spaghetti habe ich für „Notfälle“ immer dabei. Also gibt es heute gebratenes Gemüse (Auberginen, Zucchini, Paprika) als Vorspeise und danach Spaghetti Aglio-Olio-Peperoncino. Alles aus frisch geernteten Zutaten.

 

 

In aller Frühe mache ich am nächsten Morgen einen kurzen Spaziergang. Auf dieser Reise der erste um diese Tageszeit. Ohne die Notwendigkeit mit Kara einen Gassigang zu machen, rafft man sich eben viel zu selten auf. Jetzt merke ich, dass mir dieses morgendliche Ritual fehlt, bedeutet es doch eine Art meditativer Muse. Außerdem lernt man die Umgebung besser kennen. Noch liegt Stille und dichter Bodennebel über der Landschaft. Über mir der blaue Himmel, nur die Spitzen der Trulli lugen aus dem Dunst heraus. Ein Bild wie aus einer Märchenbuchillustration.

 

 

Ich steigere dieses besondere Erlebnis noch durch ein Bad im dampfenden Pool. Interessiert schaut mir das getigerte Kätzchen zu, das wir gestern Abend gefüttert haben. Ich lasse mich auf dem Rücken treiben. Alles ist so ruhig und friedlich. Eine steife Brise kräuselt das Wasser und weht den Duft von Rosmarin zu mir hin. Irgendwann wird es mir zu kalt. Zitternd kehre ich von meinem Ausflug zurück. Peter schimpft, macht mir aber gleich einen heißen Tee.

 

 

„Heute müssen wir zuerst einmal tanken“, meint er nach dem Frühstück. Seit wir ein Fahrzeug haben, das nicht nur mit Benzin, sondern auch mit Erdgas betrieben werden kann, gehört die CNG-App zum Reiseequipment. Und die sagt, dass es ganz in der Nähe eine Tankstelle für Metano, die italienische Bezeichnung für Erdgas gibt. Aber nicht immer ist die App auf dem neuesten Stand. Wir suchen und suchen. Fragen Passanten. Suchen weiter. Kombinieren. Kombinieren noch einmal anders. Suchen immer noch. Richtig hartnäckig sind wir. Schließlich finden wir die Tankstelle. Die Adresse war in der App falsch angegeben. Aber damit nicht genug: Die Tankstelle ist geschlossen! Und das bereits seit Jahren, wie wir aus den Büschen schließen, die rund um die Zapfsäulen wuchern.

 

Die pittoresken Gassen und weißen Häuser der bezaubernden Ortschaft Locorotondo lassen uns dieses kleine Ärgernis schnell vergessen.

 

 

Von hier oben hat man einen schönen Blick über das Tal mit seinem Grün aus Olivenbäumen und Wein. Dazwischen setzen die spitzen Dächer der Trulli kecke Akzente. Ein ähnliches Panorama bietet Cisternino, wo wir am nächsten Morgen den Wochenmarkt besuchen. Das gepflegte Städtchen gefällt mir gut, weil es unspektakulär und überhaupt nicht touristisch ist. Ursprünglichkeit und Beschaulichkeit ist zu spüren. Hier würde ich gern länger bleiben. Zeit haben, um den besten Bäcker oder meine Lieblingsbar zu entdecken.

 

In einer Parkanlage haben sich drei ältere Herren auf einer Bank niedergelassen und unterhalten sich angeregt. Als wir zwei Stunden später zurückkehren, sitzen die Drei immer noch dort. Ich beobachte sie eine Weile und dabei kommt mir ein Gedanke: Im Ausland empfindet man ältere Männer, die im Park oder auf der Piazza sitzen stets als ein „malerisches“, Sinnbild südländischer Lebensart. In Deutschland dagegen wird von Leuten im Rentenalter „action“ erwartet. Sie müssen sich und ihrer Umwelt beweisen, dass sie noch was drauf haben. Sie joggen, reisen, gärtnern, engagieren sich in der Kirche, bei der Tafel oder im Verein, studieren, ziehen die Enkel groß, golfen, schreiben, gehen ins Fitness-Studio, malen usw. Was ist eigentlich so schlimm daran, es ruhiger angehen zu lassen? Das Älterwerden zu akzeptieren? Nicht Langeweile, Trägheit und Resignation, aber Gelassenheit und Akzeptanz. Mit unserem Aktionismus kommen wir Deutschen mir manchmal vor, wie Kinder, die aus Angst im Keller pfeifen.

 

 

Im Gegensatz zu Cisternino ist die „Trulli-Metropole“ Alberobello natürlich ein internationaler Magnet. Auf engstem Raum stehen hier 1400 Trulli. Deshalb gehört die Stadt auch zum UNESCO-Weltkulturerbe.

 

 

Der Largo Martellotta trennt die beiden Trulli-Viertel. Im nördlichen findet der Alltag statt, das südliche hat sich ganz auf den Tourismus fokussiert. Andenkenläden, Restaurants, Bars, Aussichtsplattformen. Dazwischen wuseln Menschenmassen. So interessant der Anblick dieses „Trulli-Ballungszentrums“ auch ist, die Stadt ist uns zu überlaufen. „Ab November wird es sicher ruhiger“, stelle ich lakonisch fest.

 

 

Der gleiche Touristenrummel erwartet uns in Ostuni. Die Città Bianca ist nicht mehr ganz so weiß. Überall bröckelt der Putz. Trotzdem ist sie mit ihren Terrassen und Innenhöfen eine sehr reizvolle und malerische Stadt. Über steile Treppen, sogar sie sind weißgetüncht, geht es hinauf in die Altstadt.

 

 

Aber wir haben heute keinen Blick für das Schöne. Es ist uns zu heiß. Außerdem gehen uns das Gewimmel und die vielen Andenkenläden auf die Nerven. Und Halskratzen habe ich auch noch! „Dein morgendliches Bad war keine gute Idee!“, schimpft Peter wieder. Wir haben unsere erste Reisekrise.

 

Am nächsten Tag sind wir zur Muse gezwungen, denn ich fühle mich sauschlecht. Peter pflückt frischen Salbei und Rosmarin und brüht daraus Tee. „Gut, dass uns Cristina Honig geschenkt hat, der tut dir sicher gut.“ Es ist schön, so umsorgt zu werden. Mit viel frischem Obst, Bettruhe, unterhaltsamer Lektüre und Aspirin, schaffe ich es, am nächsten Tag wieder halbwegs reisefit zu sein.

 

 

Occhio di bue und andere Überraschungen

 

Und dann sind wir schon ganz im Süden von Apulien, im Salento, angekommen. Immer an der Küste entlang, über die wenig befahrene Panoramastraße. Bizarre Felsen, malerische Naturpools.

 

 

Endlich eine landschaftlich schöne Strecke nach unserem Geschmack. Leider stürmt es so stark, dass der geplante Spaziergang zu einer Bucht mit interessanten Gesteinsformationen ausfallen muss. Schöne Fotomotive bieten immer wieder die Wachtürme, die im 16. und 17. Jahrhundert zum Schutz vor Osmanen und Seeräubern gebaut wurden.

 

 

Als wir das sehenswerte Otranto erreichen, ist die dortige Hauptattraktion, die Kirche, natürlich geschlossen. Mittagspause. Für uns gerade richtig, um durch die jetzt fast menschenleeren Gassen zu bummeln.

 

 

In einer kleinen Pizzeria nehmen wir einen Imbiss. Der Lärmpegel dort ist beachtlich. Es gibt ja nichts, was ein modernes Smartphone nicht kann, und so ergibt die Messung mit einer entsprechenden App einen Wert von 85 Dezibel. Das entspricht etwa einem Jumbo beim Start oder bei der Landung in der Einflugschneise Frankfurt. Am Nebentisch sitzt eine Familie mit Eltern, Großeltern und Kindern. Die stark gehbehinderte alte Seniora wirkt sehr gebieterisch und mürrisch. Mit einer Bewegung der Hand weist sie den Kellner unwirsch an, zwei weitere Gedecke aufzulegen. Ihre Haare sind modern geschnitten und braun gefärbt. Auf ihrer markanten Nase sitzt eine große Brille mit goldenen Kügelchen auf dem schwarzen Gestell. Über der massiven goldenen Halskette hängt Modeschmuck aus dicken rosafarbenen Perlen. Das Armband passt dazu. Am anderen Arm trägt die Dame eine sportliche Herrenuhr sowie ein breites goldenes Armband und ein Kettchen aus Kaurimuscheln. „Was gibt es denn da drüben zu sehen? Du schaust ja ständig rüber.“, fragt Peter flüsternd. „Entschuldigung! Aber die Frau am Nebentisch ist so herrisch und unsympathisch, dass sie schon wieder interessant ist. Sogar ihre Enkel behandelt sie kühl und gereizt. Für Italienerinnen ziemlich ungewöhnlich. Sie hat noch kein einziges Mal gelächelt.“ Peter schmunzelt: „Ah ja! Psychologin Pat macht mal wieder ihre Studien!“

 

Endlich können wir die Kathedrale mit dem ungewöhnlichen Fußboden besichtigen. Auf 800 qm sind aus 600 000 Mosaiksteinchen Szenen aus dem Alten Testament und aus antiken Mythen gelegt. In nur zwei Jahren schuf der Mönch Pantaleone dieses Meisterwerk. Wir sind beeindruckt. Immer wieder entdecken wir auf unseren Reisen Orte, die uns überraschen.

 

 

Santa Cesarea Terme ist, wie der Name vermuten lässt, ein Kurort. Aber er hat mondänere Zeiten gesehen. Prächtige, heute oft etwas marode Villen, allen voran die Villa Sticchi mit ihrem orientalischen Flair, zeugen von dieser Ära.

 

 

Auch der Besuch der Grotta Zinzulusa lohnt nicht wirklich. Sie ist so schlecht beleuchtet, dass man die vielleicht beeindruckenden Stalagmiten und Stalaktiten gar nicht richtig wertschätzen kann.

 

Schließlich erreichen wir unser komfortables Gästehaus inmitten gepflegter Obst- und Gemüsefelder.

 

 

Das Zimmer ist gut ausgestattet, aber etwas beengt. Es fehlt der Platz, unser umfangreiches technisches Equipment unterzubringen und zum Aufladen anzuschließen. „Schon bemerkenswert, was man heute alles so mitschleppt und fürs Fotografieren braucht“, konstatiere ich staunend. Handys, Laptops, Drohne, Kameras – und alles muss geladen werden.

 

 

Ein Nachteil dieser neuen Art zu reisen ist, dass selten genug Platz für zwei Arbeitsplätze ist. Da Peter am Abend die Fotos aus den Kameras auf den Laptop übertragen und bearbeiten muss, ist der Platz am Tisch durch ihn belegt. Das bedeutet, dass ich meine Eindrücke nicht tagesaktuell tippen kann. Ich mache mir zwar handschriftliche Notizen, bin aber darin nicht mehr geübt und verkrampfe mich dermaßen, dass auch mein Schreib- und Denkfluss irgendwie klemmt. Mir geht es dabei umgekehrt wie Renate, einer Schreiberkollegin, die kürzlich meinte, die motorische Bewegung beim Schreiben mit der Hand, würde ihre Kreativität fördern und ihre Texte wären dann viel besser. Im Gegensatz zu ihr bin ich wahrscheinlich schon so ein degeneriertes Computer-Exemplar. Nun habe ich das Nachsehen, denn meine notierten Stichworte sind so dürftig, dass sie selten dazu ausreichen, Details zu beschreiben oder sich an Gefühle so richtig zu erinnern. Aber Hartnäckigkeit gehört zu meinen Charaktereigenschaften, und so kämpfe ich mich stoisch durch meine Gehirnwindungen, spinne Erinnerungsfäden und fülle Gedächtnislücken.

 

Erstaunen am nächsten Morgen: Wir werden von der Gastgeberin gefragt, ob wir gern ein Ei hätten. Die Italiener essen morgens wenig, und das Wenige ist in der Regel süß. Entsprechend ungewöhnlich ist Lauras Angebot. Die junge Frau ist freundlich, aber so quirlig beschäftigt, dass sie etwas gehetzt und ungeduldig wirkt. Wahrscheinlich hat sie auch viel um die Ohren, denn im gesamten landwirtschaftlichen Betrieb sehen wir außer zwei weiblichen Mitarbeiterinnen kein Personal und auch keinen Ehemann. Am darauffolgenden Tag hat Maria Frühstücksdienst. Wir bestellen auf englisch ein Spiegelei, was sie nicht versteht. Ich mache eine Geste, als ob ich ein Ei aufschlage. „Ah, capisco!“ Kurze Zeit später serviert sie uns ein perfektes Spiegelei. Ich frage, wie das auf italienisch heißt. Ihre Antwort ist für uns unverständlich. Dann deutet sie vor dem Gesicht mit den Händen große Augen an und sagt, „occhio“, nickt und brüllt dann wie ein Rind „di bue“. „Ochsenauge“ rufen Peter und ich fast gleichzeitig. „So heißt das bei uns in Hessen doch auch!“

 

Das Capo Santa Maria di Leuca ist der südlichste Punkt Apuliens. Hier treffen das Adriatische und Ionische Meer zusammen.

 

 

Rund um das Kap gibt es wieder zahlreiche Grotten, die man mit dem Boot entdecken kann. Wir machen bedauerlicherweise keine Bootstour, die Gründe hierfür sind bereits bekannt. Dafür wagt Peter einen Flug mit der Drohne rund um die imposante Wallfahrtskirche auf der Spitze des Kaps. Auf dem großen Platz vor der Kirche erinnert eine Statue von Benedikt XVI. an dessen Besuch in 2008. Der Wallfahrtsort ist Ziel vieler Schulklassen und so wimmelt es bis zur Mittagspause hier vor Kindern und Jugendlichen. Bemerkenswert ist, wie interessiert sie den Lehrern zuhören und engagiert deren Fragen beantworten.

 

Schon unter römischer Herrschaft entwickelte sich Gallipoli zu einem bedeutenden Handelshafen. Einen weiteren wirtschaftlichen Aufschwung erlebte es dann im 17./18. Jahrhundert durch den Handel mit aus Olivenöl hergestellten Lampenöl. Bevor es Petroleum gab, waren nämlich Kerzen und Öllampen die einzigen Lichtquellen. Gallipoli profitierte von einem durch die Spanier gewährten Privileg geringer Steuern auf Lampenöl. Damit konnte Gallipoli das Öl sehr preiswert anbieten und war bald wichtigster Lieferant für das Baltikum, Russland, England und das Osmanische Reich. Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Wir glauben immer an die Exklusivität der Probleme unserer Zeit. Dabei ist alles schon mal da gewesen. Die Altstadt Gallipolis liegt auf einer nur durch einen Kanal vom Festland getrennten Insel. Heute, am Sonntag, ist mal wieder viel Trubel, und doch finden wir auch ruhige, beschauliche Gassen in dem malerischen Städtchen. Immer entlang der Uferpromenade umrunden wir es einmal fast komplett, genießen die herrlichen Ausblicke und die beeindruckenden Barockfassaden der Häuser und Kirchen.

 

 

Eigentlich wollen wir auf dem Fischmarkt in der Nähe des Kastells essen. Aber heute geht es Peter nicht so gut und er hat überhaupt keinen Appetit. Sein Hals kratzt und er ist schlapp. Die Erkältungsviren haben wohl erfolgreich den Wirt gewechselt.

 

Auf dem Rückweg ist wieder mal Gastanken fällig. Diesmal finden wir die Tankstelle sofort, doch die Streckenführung unseres Navis ist sehr eigenwillig. Es bevorzugt Feldwege, Geröllpisten, Sackgassen, Einbahn-straßen – es scheint das Abenteuer zu lieben. So besinnen wir uns auf die alte Methode, nämlich Karten- und Schilderlesen und fahren damit sehr viel entspannter. Was uns bisher in ganz Italien aufgefallen ist, sind die häufigen Baustellen oder Inspektionen an Brücken. Sicher ist das eine Folge des schweren Unglücks in Genua.

 

In Specchia trinken wir auf dem Piazza del Popolo einen Aperitif. „Was ist denn hier los? Für das frühabendliche Gewusel ist es doch noch viel zu früh?“, wundern wir uns. Auf dem Platz wimmelt es vor Menschen. Alte Männer mit markanten Nasen, Damen in gedeckter Kleidung und junge Burschen in Jeans und dunklem Hemd. In Grüppchen zusammenstehend unterhalten sie sich leise und scheinen auf irgendetwas zu warten.

 

 

Wenig später löst sich das Rätsel auf. Ein Leichenwagen hält neben der Kirche. Die Glocken läuten. Einige Männer springen auf und gehen zum Ausgang des Gotteshauses. Dort öffnet sich die Tür und Menschenmassen strömen aus dem Gebäude. Irgendwann wird der Sarg auf einem Gestell heraus gerollt. Die bereit stehenden Männer übernehmen ihn und transportieren ihn zum Leichenwagen. Schließlich setzt sich der Trauerzug in Bewegung. Zunächst der Pfarrer, dann die Messdiener und schließlich die Trauergäste. Respektlos quert ein streunender Hund den Menschenstrom, so dass der Zug kurz zum Stocken kommt. Ein Tier kennt eben keine Pietät.

 

 

Schluchten, Strände, Pappmaché

 

Unsere nächste Etappe ist nur kurz. Die schöne Ferienanlage liegt in einem ehemaligen Steinbruch in der Nähe von Nardò. Der Abbau des Gesteins hat geometrische Muster in den senkrechten Wänden hinterlassen, an die beim Bau der Häuser angeknüpft wurde. Ein hohes Maß an architektonischer Ästhetik, verbunden mit funktionalem Komfort. Wir sind neben einem jungen Paar mit Kleinkind die einzigen Gäste. Jetzt nimmt der Touristenstrom doch allmählich ab und wir hätten wohl auch ohne Reservierung geeignete Unterkünfte gefunden. Aber wir sind froh, dass wir alles im voraus gebucht haben, auch wenn dies unsere Flexibilität ein wenig einschränkt. Die Zimmersuche würde viel Zeit in Anspruch nehmen und uns weniger sorglos reisen lassen.

 

Endlich mal nicht so heiß! Wir nutzen die moderate Temperatur und machen eine kleine Wanderung durch den gepflegten Parco Naturale Portoselvaggio am Ionischen Meer. Schön ist es hier. Wald, Hügel, bezaubernde Buchten. Und das Allerschönste: Kein Müll! Weder am Wegesrand, noch auf den Picknickplätzen oder am Strand. Warmer Nieselregen und würziger Pinienduft umgeben uns. Gern würde ich hier schwimmen. Außer einem Angler sind wir allein in der Bucht. Aber noch sind unsere Erkältungen nicht vollständig abgeklungen und so sind wir schweren Herzens vernünftig.

 

 

Auf dem Parkplatz des Nationalparks machen wir uns frisch und ziehen uns um. Nun sind wir adrett hergerichtet für Porto Cesareo. Dort soll es sehr gute Fischrestaurants geben. Der Ferienort verfügt über ein riesiges Hafenbecken. Im Sommer muss hier wegen der schönen Strände die Hölle los sein. Mancher Tourist vergleicht sie aufgrund ihres weißen Sandes und des klaren Wassers sogar mit der Südsee. Wir haben eine gute Wahl getroffen. Das von uns angesteuerte Restaurant bietet Fisch in allen Variationen. Der Kellner, ein schon etwas älterer korpulenter Mann, ist zwar etwas mürrisch und schlecht gelaunt, aber das Essen ist wirklich vorzüglich. Am Nebentisch sitzen zwei Männer. Der ältere der Beiden schaut immer wieder zu uns herüber. Schließlich spricht er uns auf Deutsch an: „Woher kommen Sie denn? Ich komme aus der Nähe von Düsseldorf.“ Im Gespräch erfahren wir, dass seine Mutter Probleme mit dem Hausanbau hat, und er hierher gereist ist, um sie zu unterstützen. Dann beklagt er sich noch, dass er in Italien „der Deutsche“ genannt wird, für die Deutschen aber „der Italiener“ bleibe, obwohl er seit fast 30 Jahren in Deutschland lebe. Schließlich spendiert er uns noch einen Digestif.

 

 

Lecce – das Highlight des Salento! Die quirlige Universitätsstadt gilt als die apulische Kapitale des Barocks. Und tatsächlich entdecken wir beim Bummel durch die Gassen prächtige Fassaden, Portale und Kirchen.

 

 

Das Amphitheater im Altstadtzentrum wird im Sommer für Konzerte und Theateraufführungen genutzt.

 

 

Zur Piazza Duomo gibt es nur einen Zugang. Dom, Glockenturm, Bischofspalast und Predigerseminar umrahmen den Platz. Rundum opulenter Barock. Vor einer Werkstatt in der Nähe des Doms arbeitet ein Handwerker mit einem Heißluftgerät an einer überlebensgroßen Heiligenfigur. Auf den ersten Blick glaubt man, sie sei aus Holz geschnitzt, klopft man dagegen, merkt man, dass sie aus Pappmaché gefertigt ist. Die Kunst der „Cartapesta“ wird in Lecce seit Jahrhunderten gepflegt. Sogar Kirchendecken wurden so gestaltet.

 

 

In einer Seitenstraße soll es einen Laden geben, der moderne Werke wie z. B. Schmuck oder Vasen aus Pappmaché verkauft. Als wir ihn endlich finden, hat er leider geschlossen, Mittagspause! Die nächste Enttäuschung wartet nicht lange: Die im Reiseführer hoch gelobte Konditorei gibt es nicht mehr. Hungrig und schon leicht frustriert, beschließen wir, ein kleines Mittagessen in dem ebenfalls im Reisehandbuch empfohlenen Restaurant einzunehmen. Es soll gut und preiswert sein und hauptsächlich von Einheimischen besucht werden. Wir erreichen es um 12.50 Uhr. Ein Blick auf die Karte neben der Eingangstür bestätigt die zivilen Preise. Der Kellner im Treppenaufgang verweigert uns jedoch den Eintritt: „Sorry, we open at 13 Uhr“. Irritiert ziehen wir wieder ab und trinken noch einen Kaffee um die Ecke. Als wir eine halbe Stunde später erneut die Gaststätte betreten, ist sie bereits gut besetzt. Den jungen Kellner kennen wir jetzt ja schon. Freundlich nickt er uns zu und fragt, ob wir reserviert hätten. „Sorry, occupato“, ist sein Kommentar als wir verneinen. „Warum hat er uns das denn nicht gleich gesagt? Heute ist nicht unser Tag, oder?“

 

Südlich von Taranto, immer an der wunderschönen Küste entlang. Sandstrände und Dünen wechseln mit felsige Buchten.

 

 

Und das Schönste, es ist kaum eine Menschenseele unterwegs. Entweder ist jetzt tatsächlich das Saisonende zu spüren oder diese Gegend ist touristisch nicht so gut erschlossen. Uns gefällt es hier und wir machen einen ausgedehnten Spaziergang am Strand.

 

„Fiori d`Arancio – Orangenblüte heißt unsere nächste Unterkunft am Ortsrand des Agrarstädtchens Palagiano. Tatsächlich schließt an den Gutshof eine Orangen- und Mandarinen-Plantage an. Tommaso begrüßt uns freundlich, wirkt aber mit seinem unsteten Blick und verlegenen Lachen ein wenig schüchtern. Im schön gestalteten Innenhof mit einer beeindruckenden Palme und blühenden Sträuchern wacht eine ältere Schäferhündin. Nachdem ich ihr die Fettränder unseres Schinkenvorrates gegeben habe, weicht sie mir nicht mehr von der Seite.

 

Massafra, ganz in der Nähe, liegt zwischen zwei Schluchten. Etwas außerhalb des Zentrums hat man von der an den Felsen klebenden Wallfahrtskirche einen beeindruckenden Blick in die Schlucht Madonna della Scala.

 

 

150 Stufen führen hinab zum Gotteshaus, in dem heute eine Hochzeit stattfindet. Die letzten Stufen bis zum Eingang sind mit einem roten Teppich ausgelegt. Schalen voller Rosenblüten stehen bereit. Ein Fotograf checkt gerade sein Equipment, ein anderer bringt seine Drohne in Stellung. Auch Peter steht bereit, um das Fluggerät zu starten, wenn das Paar durch das Portal tritt.

 

 

Bis dahin bleibt Zeit, einen Blick auf die Gäste zu werfen. Alle sind mächtig herausgeputzt. Manche Männer tragen sogar in der Kirche eine Sonnenbrille. Nach unserer Einschätzung sind ihre Hosen viel zu kurz und ihre Sakkos deutlich zu eng. „Die sehen aus, als wären sie aus ihren Anzügen raus gewachsen“, scherze ich. „Und guck dir den mal an. Er trägt keine Socken zum schwarzen Anzug! Wie die eitlen Gockel kommen sie mir alle vor.“ Die Garderobe der weiblichen Gäste wirkt etwas seriöser und attraktiver. Wie immer in Italien fallen uns die halsbrecherisch hohen Schuhe der Damen auf. Endlich schreitet das Brautpaar unter Jubelschreien heraus. Rosenblüten schneien herab. Kameras klicken, die Drohnen steigen auf. „Lass uns vor dem Ansturm der Hochzeitsgäste mit dem Aufzug nach oben fahren“, schlägt Peter wenig später vor. Gerade als wir in die kleine Kabine einsteigen wollen, gibt es einen Stromausfall. Stockdunkel ist es jetzt. Wir tasten uns durch den Flur zurück zur Treppe. „Nö, ich laufe lieber“, sage ich und stapfe schon die ersten Stufen hoch. „Stell´ dir mal vor, das wäre ein paar Sekunden später passiert. Dann würden wir jetzt im Aufzug festhängen!“

 

 

Am nächsten Tag regnet es Bindfäden. Wir nutzen die Zeit, um unsere Fotos zu ordnen und unsere immer noch nicht ganz abgeklungenen Erkältungen mit Bettruhe und Tee auszukurieren. Obst, Käse und Brot sind für einen Imbiss am Mittag noch vorhanden. Abends treibt uns jedoch der Hunger aus dem Haus. Wir landen in einer „Braceria“, also in einer kleinen Gaststätte, die oft an eine Metzgerei angeschlossen ist, und in der es hauptsächlich Fleischgerichte vom Grill gibt. Offensichtlich verirren sich selten Touristen hierher, denn der Wirt begrüßt uns mit einem zuerst überraschten, dann erfreuten Gesichtsausdruck per Handschlag. Sein Vater kommt neugierig aus der Küche und erzählt, dass er mal zwei Jahre bei Lippstadt gearbeitet habe. Nur für die Wirtin sind wir uninteressant. Wie hypnotisiert schaut sie sich vom Nebentisch aus eine Quizsendung im Fernsehen an. Dann tischen die beiden Männer auf, was die Vorräte hergeben. Wir beginnen mit Oliven, Schinken, Salami und Burrata, einer Mozzarella-Art. Danach folgt eine Auswahl an kleinen Rouladen und Bratwurststücken, garniert mit Gemüse. Schließlich gibt es Steaks, überbacken mit Tomaten, Käse und Rucola. Dazu trinken wir einen halben Liter Wein, Wasser und zum Abschluss Kaffee. Das Ganze kostet keine Euro 45. In Italien ist es oft üblich am Tresen zu zahlen. Dort kassiert jetzt die junge Frau, denn mittlerweile sind noch andere Gäste gekommen, und Vater und Sohn haben in der Küche alle Hände voll zu tun. Peter legt 50 Euro auf die Theke, sagt „okay“ und wendet sich zum Gehen. „No, no“, ruft die Wirtin ihm nach, nimmt einen 10-Euro-Schein aus der Kasse und hält ihn Peter hin. Zuerst denken wir, sie hätte sich geirrt und eigentlich einen 5-Euro-Schein herausgeben wollen. Aber als sie auch nach hartnäckigem Protest dabei bleibt, müssen wir annehmen, sie will uns einen Rabatt gewähren. Wir versprechen morgen wieder hier zu essen. Aber es kommt wieder einmal anders. Beim Anblick des regenschweren Himmels, beschließen wir am nächsten Morgen spontan, einen Tag früher weiter zu ziehen. Wir werden also unser Versprechen nicht einhalten können. Mit einem schlechten Gewissen machen wir uns auf den Weg.

 

 

Satt!

 

Wir merken, dass unsere Aufnahmefähigkeit für Sightseeing-Highlights allmählich nachlässt. Taranto lassen wir deshalb ausfallen, obwohl die Stadt mit ihrer Gegensätzlichkeit von Modernität und morbiden Charme sehr interessant sein muss. Matera, die berühmteste Höhlenstadt der Welt, wollen wir uns aber auf keinen Fall entgehen lassen. Ein Felsplateau über einer Schlucht, dazwischen Höhlensiedlungen.

 

 

Noch bis in die 1950er Jahre wohnten Menschen in großem Elend in diesen in den Fels geschlagenen Behausungen. Der Schriftsteller Carlo Levi machte die Verhältnisse in seinem Roman „Christus kam nur bis Eboli“ zum Thema und setzte sich nach dem Krieg für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bewohner ein. Daraufhin beschloss die Regierung die Evakuierung und Neuansiedlung etwas außerhalb. Die Höhlenwohnungen gingen in Staatsbesitz über und verfielen allmählich. Noch heute sind 70% der Gebäude in öffentlicher Hand. Erst in den Siebzigern erkannte man den historischen Wert der Bauwerke. Gern hätten wir in einer der restaurierten und zu Gästehäusern umgewandelten Felsenwohnungen übernachtet. Zu glauben, hier kurzfristig ein Zimmer zu bekommen ist wohl naiv, und so geben wir den Versuch nach ein paar erfolglosen Telefonaten auf. Vom Parkplatz am Rande der Altstadt laufen wir von der Piazza Veneto zur Piazza Pascoli. Vorbei an beeindruckenden Palazzi und Kirchen mit wundervollen Ausblicke auf die Schlucht.

 

 

Heute leben wieder über 3000 Menschen in Matera. Die Stadt zeigt sich restauriert und herausgeputzt, und ich habe Schwierigkeiten, mir das Leben in den Höhlen vorzustellen.

 

 

Einen guten Einblick gibt aber das Haus Grotta di Vico Solitario, das als Museum ausgebaut wurde. Die Besucherströme sind auch jetzt noch so groß, dass die Besichtigungszeiten streng organisiert und reglementiert werden müssen. Trotzdem lohnen sich die Wartezeiten. Auf engstem Raum sind miteinander verbundene Nischen in den Fels geschlagen. Es gibt eine Küchenecke und einen kombinierten Schlaf- und Wohnraum, in dem Menschen und Tiere zusammen lebten. Das Ehebett wurde wegen der aufsteigenden Kälte sehr hoch gebaut. Truhen dienten als Schlafstatt für die Kinder.

 

 

Letzte Station unserer Rundreise ist ein Gästehaus in Lucera. Wir sind also auf unserer Rundreise wieder im nördlichen Teil von Apulien angekommen. Die Unterkunft ist nochmal ein Highlight. Der Patrone war Art-Director einer Werbeagentur und hat bei der innenarchitektonischen Gestaltung seine Kreativität voll ausgelebt. Symmetrie, Wiederholung und die abgewandelte Ästhetik von Alltagsgegenständen scheinen seine künstlerischen Themen zu sein. Über der Tür hängen z. B. vier schwarz-weiß bemalte Schaufelblätter. Oder ein Objekt aus Stahldraht geformten und in Paaren angeordneten Schlaufen ziert die weiße Kalkwand. Sogar das Obst und die Hörnchen, der Käse und die Wurst auf dem Frühstücksbuffet sind in linearer Ordnung platziert.

 

 

Verwirrung bei der Ankunft. Wir betreten das großzügige Foyer durch die offen stehende Eingangstür. Lustlos schlurft eine Dame mittleren Alters heran und grüßt muffelig. Wir bemerken freundlich: „We have a reservation and we called you yesterday, because we arrive one day earlier.“ „Contrada?“, fragt sie bellend. Verständnislos schauen wir uns an. „Contrada?“, wiederholt sie ihre Frage. Dann zeigt sie auf das Firmenschild an der Eingangstür. Darauf steht „Contrada“. Nun deutet sie auf ein weiteres Schild an der Tür daneben „Nicchie“. „Contrada o Nicchie?“, bellt sie wieder. „Nicchie“, antwortet Peter. Stumm zeigt sie auf die Nachbartür, dreht sich um und verschwindet. Beim Abendessen frage ich den freundlichen Betreiber von „Nicchie“ nach dem Hintergrund des „zweigeteilten Hauses“. Er lächelt und legt seinen Zeigefinger auf die Lippen. Dann erzählt er aber doch von den Familienproblemen. Ursprünglich wurde das symmetrische Anwesen als Ganzes von ihm und seinem Bruder betrieben. Irgendwann gab es Streit und nun führt jeder der Beiden ein eigenes Gästehaus in seiner Gebäudehälfte. An den vernachlässigten Außenanlagen sind die Querelen deutlich zu erkennen. „Ein Jammer!“, seufze ich.

 

 

Die Stadt Lucera ist ursprünglich und sehenswert. Einst gehörte es zur römischen Kolonie, woran das erhaltene Amphitheater erinnert. Nachdem diese Ära vorüber war, stritten sich verschiedene Mächte um die strategisch günstige gelegene Ortschaft. Schließlich siegten die Normannen und Friedrich II. ließ eine Festung bauen. Die einst mächtige Anlage sieht heute recht erbärmlich aus. Viel ist nicht mehr von ihr übrig. Das Wenige wurde offensichtlich vor Jahren schlecht restauriert. Damals angebrachte Informationstafeln und Beleuchtungskörper sind zerstört, überall liegt Müll herum. In einem besseren Zustand ist die Kathedrale, einer der wenigen gotischen Kirchen in Apulien.

 

 

Wir sind satt und etwas abgeschlafft! Kopf und Herz sind prall gefüllt mit Eindrücken. Wir wollen nach Hause.

 

 

Zwei Tage früher als geplant reisen wir in Richtung Heimat. Die langen Autobahnfahrten strengen uns an und so legen wir recht oft eine Pause ein. An einem Rastplatz essen wir unsere letzten Brot- und Käsevorräte. Kauend stehen wir hinter unserem Fahrzeug, als ein dicker BMW ziemlich forsch in die Parklücke neben uns einfährt. Vier Herren in Geschäftskleidung steigen aus. Einem von ihnen, er dürfte der Älteste und etwa Mitte 50 sein, entfährt ein Schmerzenslaut beim Aussteigen. Peter nickt ihm lächelnd zu. Das kennen wir nur allzu gut. Der Italiener lächelt zurück und meint: „Athrosi!“ Bei Forli legen wir noch eine Zwischenstation in einem entzückenden Gästehaus ein. Es wird von Nadine betrieben, einer sympathischen jungen Frau, die aus Solingen kommt. Während ihres Studiums in Italien hat sie vor über zwanzig Jahren ihren Mann kennengelernt und ist hier geblieben. Das Haus der Schwiegereltern wurde erweitert und zu einem Bed&Breakfast umgebaut. „Mein Mann hat alles Handwerkliche selbst gemacht“, erzählt sie uns. Geschmackvoll, gemütlich, perfekt. Es wurde an alles gedacht. Hier würden wir noch ein paar Tage bleiben, wenn das Wetter besser wäre. Aber es hat wieder zu regnen begonnen.

 

http://www.bbnadine.it/de/

 

Diesmal wollen wir die Route über den Brenner nehmen. „Da könnten wir doch eigentlich mal Reini und Werner besuchen“, schlägt Peter vor. Ein kurzer Anruf – sie sind zu Hause und würden sich freuen. Reini sagt sogar ihren Mädels-Abend ab. Das erfahren wir aber erst später, sonst hätten wir protestiert. Wie immer ist es gemütlich bei ihnen. Bei einer zünftigen Brotzeit genießen wir ihre spontane Gastfreundschaft. Endspurt am nächsten Tag. Baustellen, Staus, Unfälle. Völlig geschafft kommen wir in Murr an. Hier sind wir vor fast genau fünf Wochen gestartet.

 

 

Fazit

 

Wir können es noch! Das Improvisieren, das Einstellen auf neue Situationen, das sich begeistern lassen!

 

 

Malerische Altstädte, imposante Bauwerke, schöne Strände, gutes Essen, freundliche Menschen – wir haben Apulien genossen. Ein wenig haben wir Naturerlebnisse vermisst. Positiv überrascht hat uns der hohe Standard der Gästehäuser und deren gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Die neue Art zu reisen gefällt uns also gut und die Veränderung hat uns Spaß gemacht. Oft fühlten wir uns an frühere Zeiten erinnert, in denen wir noch ohne den Komfort eines Wohnmobils gereist sind. Aber wir haben auch gemerkt, dass wir nach den Ereignissen in diesem Jahr noch nicht wieder ganz stressfest sind. Die Fahrweise der Italiener, die engen Gassen und vor allem dieses schwachsinnige Navi haben viel Nerven gekostet. Außerdem war das Besichtigungsprogramm zu stramm. Weniger ist mehr, wird daher unsere Devise bei der nächsten Reise sein. Ideen hierfür reifen gerade heran.