Wir sind mutig genug, Veränderungen zu wollen, weil Veränderungen Utopien wirklich machen können (Olof Palme)

 

 

Im Ferienhaus fühlen wir uns sofort wohl. Die Aussicht von der großzügigen Terrasse auf den See ist einfach wunderbar.

 

 

Am Tag ist es dort allerdings aufgrund des hervorragenden Wetters zu heiß. Also wandern wir mit unseren Stühlen immer dem Schatten hinterher.

 

Der Clou ist natürlich der Whirlpool auf der Terrasse
Der Clou ist natürlich der Whirlpool auf der Terrasse

Das Haus selbst liegt an einem steilen, bewaldeten Hang. Es hat viele große Fenster und ist gut ausgestattet, wenn auch der Zahn der Zeit schon etwas an ihm nagt. Im Garten wachsen üppig Rhododendren und Lupinen. Ein Fliederbusch mit kleinen Blättern und Blüten duftet betörend.

 

 

Am herrlichsten aber ist die Stille. Ich korrigiere mich, still ist es hier nicht wirklich. Dazu trällern und zwitschern die Vögel zu laut. Ein beeindruckendes Konzert! Sogar ein Kuckuck ist hin und wieder zu hören und auch ein Buntspecht schaut ab und zu vorbei, um am Birnbaum direkt neben unserem Frühstückstisch zu trommeln. So nah habe ich noch nie einen Specht gesehen. Was wir jedoch lange nicht erlebt haben, ist das völlige Fehlen von Zivilisationsgeräuschen. Nur am Wochenende bastelt eine junge Familie hörbar an ihrer auf der anderen Seite des Sees liegenden Hütte.

 

Von den gefürchteten Mücken bleiben wir glücklicherweise weitgehend verschont. Wahrscheinlich ist es für sie zu heiß und zu trocken. Es muss lange nicht geregnet haben, wie die gelben Wiesen vermuten lassen. Eine Ringelnatter schlängelt sich träge durchs Gras, um schließlich hinter der Holzverkleidung des Hauses zu verschwinden. „Und wenn sie irgendwo eine Öffnung ins Gebäude findet?“, frage ich Peter. So ganz geheuer ist mir der Gedanke nicht.

 

Zunächst decken wir uns im 23 km entfernten Boras mit Lebensmitteln ein. Die Stadt zählt mehr als 70.000 Einwohner, hat eine Universität und war früher ein Zentrum der Textilindustrie. Auch heute gibt es hier noch einige Textilbetriebe. Viele schwedische Bekleidungsunternehmen haben in Boras ihre Zentrale oder Handelsvertretung, die meisten schwedischen Versandhandelsunternehmen ihren Sitz.

 

Der Ortskern ist nett und gepflegt und verfügt über einige Restaurants. „Schau mal, der Thailänder bietet einen recht preiswerten Mittagstisch an“. Peter deutet auf das Angebotsschild vor einer Terrasse. Mittags ist in Schweden das Essen im Restaurant sehr viel kostengünstiger als am Abend.

 

Im Supermarkt sind die Preise höher als bei uns. Sonderangebote gibt es meist dann, wenn man mehr kauft, also zum Beispiel gleich zwei Brote. Wir nehmen sogar vier sowie Brötchen und jede Menge der leckeren Zimtschnecken. In der Küche des Ferienhauses steht ja ein riesiger Tiefkühlschrank. So sparen wir eine zweite Einkaufsfahrt. Toll finde ich die in einem Kühlregal entdeckte Offerte. Für sehr wenig Geld gibt es Endstücke zu kaufen. So decke ich mich für je etwa 0,70 € mit jeweils 300 g magerem gekochtem Schinken und edlem Roastbeef ein. Für Brotbelag und Nudelauflauf ist also gesorgt. Das Roastbeef schneide ich in schmale Streifen und brate es mit Zwiebeln und Knoblauch an. Und schon hat man leckeres Gyros. In deutschen Supermärkten werden die Endstücke weggeworfen.

 

Was mich enttäuscht, ist die Tatsache, dass auch in Schweden der Plastikwahn kursiert. Alles ist verpackt. Es gibt kaum loses Obst und Gemüse. Ich dachte, hier würde der Umweltgedanke schon in allen Bereichen mehr gelebt. Allerdings ist die Mülltrennung dagegen vorbildlich, weil für den Verbraucher auch komfortabel realisiert. So haben die Mülltonnen mehrere Einsätze, für jede Müllsorte (Glas, Papier, Zeitungen, Dosen, Plastik, Verbundverpackungen, Organisches und Rest) einen gesonderten. Wie das bei der Abholung funktioniert, konnten wir leider nicht eruieren, weil die Müllbehälter für uns nicht einsehbar circa 300 m entfernt vom Haus an der Straßeneinfahrt stehen. So verbinden wir die Entsorgung mit einem täglichen kleinen Abendspaziergang.

 

Die ersten drei Tage, verhalten wir uns noch wie zu Hause: Frühstück, Duschen, Aufräumen, Erledigungen und erst danach Muse. Dann dehnen wir die Zeit zwischen Frühstück und Duschen schon weiter aus. Peter versucht sein Anglerglück, ich lese, mache – umschwirrt von Schmetterlingen und dicken Käfern - Gymnastik im Schatten der Eberesche oder sitze einfach nur da und schaue, lasse die Gedanken schweifen. Dabei ist der Schlafanzug mein liebstes Kleidungsstück. Ich bin wieder ganz das Kind, das die ersten Ferientage versunken spielend und rumtrödelnd verbringt.

 

Wie schon bei unserer letzten Reise fasziniert mich in Schweden diese Gleichzeitigkeit von Gestalten und Gewährenlassen. Ordnung, ohne Pedanterie. Gemeinschaftssinn ohne Engstirnigkeit. Wohlstand und Bescheidenheit, Modernität und Menschlichkeit scheinen sich nicht auszuschließen. Von Kennern werden die Schweden als maßvoll beschrieben. Eigenverantwortung werde groß geschrieben und schon den Kindern vermittelt, sagen sie. Dass dem tatsächlich so ist, lassen die vielen ungesicherten Terrassen, Abhänge und Wege vermuten. In Deutschland undenkbar. Ein Aufschrei besorgter Eltern würde durch die Republik hallen.

 

Die höflichen, Abstand haltenden Autofahrer lassen auf ein entspanntes Verhältnis der Schweden zu ihren Mitmenschen schließen. Hier ist man nicht mit Wut im Bauch und gestrecktem Mittelfinger unterwegs. Auf den Schnellstraßen gibt es an gefährlichen Stellen viele Blitzer. Auf die wird aber mit Verkehrsschildern vorher mehrmals hingewiesen. Man will Sicherheit und keine Geldeinnahme erzielen.

 

Leider gab es wie in ganz Europa auch in Schweden bei den letzten Wahlen im Herbst 2022 einen Rechtsruck. Ohne Unterstützung durch die EU-kritische und russlandfreundliche Partei „Schwedische Demokraten“ kann die gebildete Koalition nicht arbeiten. Welche längerfristigen Auswirkungen das haben wird, bleibt abzuwarten.

 

 

Zum Haus gehört ein wackeliger Bootssteg mit einem Ruderboot, das mit einem Elektromotor angetrieben werden kann. Das nutzt Peter die ersten Zeit täglich zum Angeln.

 

 

Bei einer gemeinsamen Ausfahrt am frühen Abend ist das Wasser ganz glatt. Die Stille bohrt sich ins Ohr und hoffentlich für lange Zeit in die Seele. Nur das leise Gluckern unter dem Bootsrumpf und die Vogelstimmen sind zu hören. Ruhig gleiten wir dahin. Birken, Ahornbäume, Eichen, Kiefern und Fichten umrahmen den See. Manche Birkenstämmchen wachsen dünn und krumm wie Spargelstangen zwischen den Ufersteinen. In der aufkommenden Abendkühle weht eine duftende Waldbrise zu uns herüber. Reflexionen im Wasser, Doppelbilder. Der leiseste Windhauch oder ein nur ganz kleines Schaukeln des Bootes verursacht Wellen, lässt die Konturen verschwimmen. Baumstämme wabern, bilden Schlangenmuster, teilen sich wie blubbernder Brei.

 

 

Möwen umkreisen uns und hoffen wohl auf einen Happen, herausgeworfen aus dem Anglerboot. Leider nix zu holen, liebe Möwen, denn Peter hat noch nichts gefangen. Dass es aber dicke Hechte im Gewässer gibt, davon konnte er sich gestern überzeugen, als er ein Exemplar beim Betreten des Bootsstegs wegschwimmen sah. Der Fisch hatte wohl unter dem Steg ein Nickerchen gehalten.

 

Im Laufe der Tage merkt Peter, dass seine alte Leidenschaft fürs Angeln nur noch verhalten auflodert. Alles hat seine Zeit, und das in jungen Jahren exzessiv betriebene Hobby reizt ihn heute nur noch ein bisschen. Lieber streift er durch die Gegend und fotografiert.

 

 

Auch bei mir bemerke ich Veränderungen. Früher bin ich in jedes Gewässer gleich rein gesprungen. Heute bin ich zögerlich. Das Wasser des Lysjön ist dunkelbraun, die Sichttiefe gering. Nur an flachen Stellen kann man etwas im Wasser erkennen. „Vielleicht ist der Bereich rund um die Badeleiter stark bewachsen. Vielleicht gibt es Wasserschlangen, die man in der Bräune nicht sieht“, sind meine Bedenken. Auch die niedrige Wassertemperatur fordert Überwindung. Tagelang kann ich mich nicht zu einem Bad entschließen. Dabei ist die Braunfärbung für Badende harmlos, wie wir lesen. Durch Emissionsrückgang gibt es mehr organisches Material, das langsamer verrottet. Ein anderer Wissenschaftler macht die zunehmende Anpflanzung von Nadelgehölzen in Gewässernähe für die Färbung verantwortlich. Mit Kalkungsprogrammen wirkt Schweden seit den 1970er Jahren erfolgreich dem Versauern der Seen entgegen. Mit Hubschraubern wird der Kalk ausgebracht. Eine Nudelfabrik verteilt sogar ihre Eierschalen aus der Produktion im Winter auf dem Eis.

 

 Und dann wage ich es doch noch!

 

 

Und letzte Nacht hat es endlich mal geregnet!