Ein Reisemobil, wie für uns gebaut!

 

 

„Pat, schau dir das mal an. Da wird ein Reisemobil angeboten, genau so, wie wir es uns wünschen. Als wäre es für uns gebaut.“ Peter hat in ebay gestöbert und „unser Reisemobil“ entdeckt. Zögernd komme ich näher und schaue über seine Schulter auf den Bildschirm. „Wer versteigert denn schon ein Reisemobil? Da ist doch etwas faul!“ Nach der Beschreibung und den Bildern trifft es genau unsere Vorstellungen: Zwei feste Betten machen abendliches Umbauen überflüssig. Toilette und Dusche sind voneinander getrennt. Große Dachluken sorgen für viel frische Luft und einen freien Blick in den Sternenhimmel. Genügend Stauraum, der große Küchenblock, die gemütliche Sitzgruppe, der große Spiegel und – der Clou - die eingebaute Waschmaschine überzeugen mich.

 

Peter dagegen ist von den technischen Details begeistert: robustes MAN Busfahrgestell, 12 t zulässiges Gesamtgewicht, voll luftgefedert, Sieben-Liter-Motor mit 198 PS, Dieseltank mit 300 Liter Fassungsvermögen, Stromgenerator, riesige Frisch- und Abwassertanks, vollautomatische Satellitenantenne, einen großen Motorroller in der Heckgarage und noch einiges mehr. „Man müsste es sich mal anschauen.“ Aber die Versteigerungsfrist läuft schon am nächsten Tag ab. „Bisher hat niemand geboten, wahrscheinlich tut sich da auch nichts. Ich schreibe auf jeden Fall mal eine E-Mail, dass wir uns das Fahrzeug gern ansehen wollen.“

 

Bedauern am nächsten Tag: Das Reisemobil ist zu einem überraschend hohen Preis ersteigert worden. Ich hake die Angelegenheit sofort ab. Das gehört zu meinen Lebensprinzipien. Großgeworden in einer Familie, in der sich das völlig irrationale Einschätzen verpasster Chancen im häufigen Gebrauch der Wörter „hätte“ und „könnte“ ausdrückte, hatte ich mir schon früh geschworen: „Das machst du niemals!“ Als ich drei Tage später von der Arbeit nach Hause komme, empfängt mich Peter schon an der Haustür und strahlt: „Das Reisemobil ist doch noch zu haben. Da hat sich ein Spaßbieter einen Scherz erlaubt! Nach diesem Schock will der Verkäufer jetzt nur noch direkt verkaufen. Am Wochenende haben wir einen Termin!“

 

Ich fühle mich überrumpelt und will gereizt einwenden, wir sollten uns doch vorher darüber klar werden, ob wir uns jetzt schon mit einem Reisemobil binden wollen. Da erinnere ich mich an die Sache mit dem Kanu. Das Markenprodukt wurde vor Jahren zu einem außerordentlich günstigen Preis angeboten. Damals konnte ich Peter überzeugen: „Das billigste Kanu ist zu teuer, wenn es dann doch nur in der Garage steht.“ Noch heute spricht Peter bedauernd von diesem Schnäppchen und ergänzt stets mit vorwurfsvollem Blick in meine Richtung: „Wir hätten uns das nicht entgehen lassen sollen.“ Um ähnliche Reaktionen zu vermeiden, stimme ich also der Besichtigung des Reisemobils zu. „Aus dem Kauf wird sowieso nichts. Da muss es einen Haken geben“, sage ich am Abend zu meiner Freundin am Telefon.

 

Die Verkäufer heißen Herbert und Evelyn. Nach zwei schweren Herzinfarkten hat sich der liebenswerte, sympathische Mann zum Verkauf „seines Babys“ durchgerungen. Aufgeregt empfängt er uns und zeigt uns mit Begeisterung alle Details seines Traummobils. Es wurde exakt nach seinen Vorstellungen und Plänen gebaut. Immer wieder versagt ihm die Stimme. Wir spüren sein inneres Ringen, und es lässt uns nicht kalt. Geschichten aus seinem Leben und von seinen Reisen zwischen amüsanten Details: „Den Roller hatte ich zuerst. Das Wohnmobil wurde quasi um den Roller herum gebaut.“ Herbert lacht. Aber es ist ein trauriges Lachen. Er hatte noch so viel Pläne. Ein Energiebündel, wie seine Biographie erahnen lässt. Aufgewachsen im Schwarzwald, von Beruf Metzger, als Geselle in Köln hängen geblieben, Heirat, keine Kinder. Selbständigkeit. Mit Fleiß, Qualitätsprodukten und unternehmerischem Geschick bauen er und seine Frau einen Filialbetrieb auf. Schuften, gönnen sich nichts. Arbeit, immer nur Arbeit.

 

Nach dem Tod seiner Frau beschließt er, sein verdientes Geld auszugeben. Irgendwann lässt er dann das Reisemobil bauen. Mit glänzenden Augen erzählt er von seiner Reise zum Nordkap. Dann noch mal ein spätes Liebesglück. Mit seiner zweiten Frau will er ganz Europa und Nordafrika bereisen. Kurz vor der Abreise nach Marokko der erste Herzinfarkt. Wenig später der zweite. Und nun stehen wir hier und verhandeln über den Kauf seines Lebenstraumes. Natürlich hat Herbert es geschafft, uns zu begeistern. Allerdings gibt es einen Wermutstropfen: Das Fahrzeug erfordert einen LKW-Führerschein, und den haben weder Peter noch ich. Wir signalisieren trotzdem starkes Interesse und bitten um ein paar Tage Bedenkzeit.

 

Auf der Fahrt nach Hause hängen wir unseren Gedanken nach. Ich denke an Herbert und daran, wie ungerecht das Schicksal ist. Sehe das Reisemobil mit all seinen Vorzügen vor mir. Mögliche Reiseziele tauchen vor meinem inneren Auge auf. Dazwischen funkt der Verstand. Stellt Finanzierungsberechnungen an, wägt Für und Wider ab, streut Skepsis. „Traust Du Dir zu, mit 56 Jahren noch den LKW-Führerschein zu machen?“ breche ich das Schweigen. Peter, wie immer zuversichtlich und ohne blockierende Selbstzweifel: „Aber ja doch, da sehe ich kein Problem. Bekommst Du denn die Finanzierung hin? Unsere Lebensversicherung wird doch erst nächstes Jahr fällig.“ Ebenso zuversichtlich antworte ich: „ Ja, ja, das müsste gehen. Ich rede morgen mal mit der Bank wegen einer Zwischenfinanzierung.“ Damit ist die Entscheidung getroffen. Kein weiteres Diskutieren, Zweifeln, Beratschlagen.

 

Im Rückblick wundere ich mich noch heute darüber, brauche ich doch gewöhnlich länger, um Fakten zu sammeln und Vor- und Nachteile abzuwägen. Ob der Tod meiner Freundin eine Rolle spielte? Schlaganfall mit 44 Jahren! Dreißig Jahre lang kannte ich sie und dann, von einem Tag auf den nächsten, gibt es diesen Menschen nicht mehr. Vergänglichkeit wird spürbar, schmerzt. Wie viel Zeit bleibt noch? Ein eigenes Reisemobil war immer unser Wunsch! Besser jetzt als später.

 

Sehr unterschiedliche Reaktionen bei unseren Freunden, denen wir mit leuchtenden Augen von dem Reisemobil erzählen. „Habt Ihr im Lotto gewonnen?“ „Das rechnet sich doch nicht!“ „Nein, für mich wäre das nichts!“ „Und wenn Du den Führerschein nicht schaffst?“ Nur unsere Freunde vom Rhein lassen sich von unserer Begeisterung anstecken und raten spontan zum Kauf. Sie finden die Idee so gut, dass sie sogar anbieten uns das Geld bis zur Fälligkeit der Lebensversicherung vorzustrecken. Wir sind von so viel Großzügigkeit und Vertrauen überwältigt. Trotzdem möchten wir das Angebot nicht annehmen, sondern freundschaftliche Hilfsbereitschaft wirklich nur in Notfällen in Anspruch nehmen.

 

Drei Tage später liegt die Finanzierungszusage der Bank auf dem Tisch, Peter hat sich bereits in der Fahrschule angemeldet und ein Übernahmetermin ist mit Herbert und Evelyn vereinbart. Peters Schwager, ein erfahrener Trucker, wird zur kritischen Begutachtung und Überführung des Fahrzeugs verpflichtet. Aufgeregt und mit einem LZB-Scheck in der Tasche, geht es Richtung Süddeutschland, wo „unser“ Reisemobil auf uns wartet. Wieder herzlicher Empfang. Sogar die beiden Hunde scheinen uns ins Herz geschlossen zu haben, schnüffeln und springen schwanzwedelnd an uns hoch. Sogleich werden alle Fahrzeugdetails von den Männern kritisch untersucht. Gudrun, meine Schwägerin, ist wie ich von der Innenausstattung begeistert. Schnell ist das Formelle und Pekuniäre erledigt und wir können den Abschluss bei einer zünftigen Brotzeit feiern. Herbert spendiert seinen selbstgemachten, leckeren Schinken. Zu spät für die Heimreise, übernachten Gudrun und Peter im Gästezimmer und wir im Reisemobil.

 

Die erste Nacht im eigenen Fahrzeug! Lange können wir nicht einschlafen, so aufgewühlt und glücklich sind wir. Peter reicht mir seine Hand und meint: „Weißt Du, dass wir sehr viel Glück im Leben haben? Vor allem, weil wir das alles gemeinsam erleben dürfen.“

 

Und dann kommt der Moment des Abschieds. Herbert kämpft mit den Tränen. Wir versichern, in Kontakt zu bleiben und von unseren Reisen regelmäßig zu berichten. „Zieht noch mal das Signalhorn“, bittet er, als wir einsteigen. Mit lauter Fanfare fahren wir vom Hof. Lange winkt uns Herbert nach, sich immer wieder über die Augen wischend „Da fuhr nicht nur das Reisemobil vom Hof“, resümiert später der sonst so raubeinige Schwager, „da fuhren auch der Lebenstraum und die Gesundheit davon.“

 

Zweihundert Kilometer später scheint auch unser Traum jäh beendet. Bedrohliche Geräusche vom Motor werden immer lauter, bis Peter entscheidet: „Wir benachrichtigen eine Werkstatt. Da stimmt etwas nicht!“ So stehen wir, je nach Temperament wütend oder verstört, bei brütender Hitze auf einem Autobahnparkplatz und warten auf den Monteur. Als dieser uns nach zwei Stunden endlich gefunden hat, sind wir erst einmal erleichtert. Aber nicht lange. Da er keine eindeutige Diagnose stellen kann, ruft er seinen Chef an und hält das Handy an den Motor, um ihm das seltsame Motorengeräusch zu übermitteln. „Sofort den Motor ausschalten“, meint dieser besorgt. Uns fällt das Herz in die Hose. Wir heulen nicht, wir fluchen nicht. Ganz still sind wir geworden. Ein riesiger Truck kommt und schleppt unseren Traum vom Reisen ab. Als Herbert von dem Schaden erfährt, versichert er spontan: „Damit lasse ich Euch nicht allein!“ Und er hat Wort gehalten. Von den nicht unerheblichen Reparaturkosten übernimmt er die Hälfte. Kleine Ursache, großer Ausbauaufwand: Das Antriebsritzel für den Luftkompressor ist defekt. So endet die euphorisch begonnene Jungfernfahrt in der Werkstatt. Gut, dass wir nicht abergläubig sind.

 

Obwohl Peter den Führerschein innerhalb kurzer Zeit mit Bravour besteht, können wir unser Reisemobil noch wenig nutzen. Mein Arbeitgeber löst die Niederlassung Frankfurt auf und ich bin auf Stellensuche. Trotz meines Alters von 45 Jahren, finde ich wieder einen sehr interessanten Arbeitsplatz. Jetzt heißt es, sich reinzuknien, an Urlaub ist da nicht zu denken. Peter nutzt die Zeit, um das Reisemobil zu optimieren. Da werden zusätzliche Aufbaubatterien angeschafft, die Reifen erneuert, der Kühlschrank ausgetauscht, stärkere Abwasser- und Wasserpumpen installiert, das Abwasserleitungssystems modifiziert und eine Vakuumtoilette eingebaut. Glücklicherweise haben wir eine geräumige LKW-Garage zu einem erschwinglichen Preis gefunden, so dass Peter die Arbeiten in aller Ruhe angehen kann.

 

Dann endlich die erste Testfahrt ins Münsterland. Alles klappt wunderbar und wir fühlen uns sehr wohl in unserem Reisemobil. Auch eine spätere Reise nach Sizilien verläuft pannenfrei. Vor allem macht sie Lust auf mehr!