Zum Meeresauge und anderen Wanderzielen

 

 

Wie Lachse zum Laichplatz, wie ferngesteuert, zieht es uns regelmäßig in städtisches Leben. Wir fühlen uns wohl in diesem menschlichen Strom aus Wollen und Schaffen. Mit einer naiven Freude lassen wir uns umgarnen von den Kunstwerken, den musizierenden Studenten, den gutgelaunten Menschen und den Restaurants. Von den Geist- und Gaumenkitzlern. Und genauso regelmäßig fegt ganz plötzlich etwas diesen wohligen Kokon hinweg. Vielleicht ist es der zahnlose Bettler, der nach Alkohol und Urin riecht oder der bröckelnde Putz an einer Hausfassade. Oder es sind die vielen ungeduldigen, deutschen Touristen in ihren beigefarbenen Rentnerwesten. Vielleicht machen uns aber auch nur die vielen Menschen und Autos, der Lärm, die Enge und der Schmutz nervös und kritisch. Städte akzentuieren, potenzieren, polarisieren menschliche Stärken und Schwächen.

 

Wir sehnen uns jetzt nach Übersichtlichkeit, Gleichförmigkeit. Ja, vielleicht sogar nach Eintönigkeit. „Einfach statt komplex“, fasst Peter unser Gefühl zusammen. Wir sind auf dem Weg zur Schneekoppe, fühlen uns frei und unbeschwert. Endlich. Leuchtende Rapsfelder links und rechts der Straße. Hier und da ein Bauernhaus, versteckt hinter einem Wall aus Bäumen und Büschen. Auf staubigen Straßen durch ärmliche Dörfer. Bunte Blumen vor und hinter den Zäunen. Ein Junge winkt.

 

Der Campingplatz in Karpacz ist einfach und liegt gleich neben einem kleinen Angelsee. Gerade kommt der Besitzer mit einem Eimer voller Fische vom Teich. Gestenreich, mit ein paar Worten in Deutsch, gibt er uns zu verstehen, wir könnten uns überall hinstellen, denn wir seien die einzigen Gäste. Dann fragt er „Kawa?“ Wir nicken und er deutet auf die beiden Stühle vor dem kleinen Büro. Kindheitserinnerungen werden wach. Genau solche Gartenstühle, die Lehnen und Sitzflächen mit Plastikschnüren bespannt, hatten wir zu Hause. Sie hinterlassen Streifenmuster auf Rücken und Beinen und, bei schon etwas ausgeleierten Exemplaren, rutscht der Po zwischen den Schnüren hindurch. Kindliches Kichern, wenn Oma im Sessel versank und ihr kräftiger Hintern fast den Boden berührte. Noch über diese Erinnerung lachend setzen wir uns. Da kommt auch schon der freundliche Campingplatzbesitzer mit zwei Tassen Kaffee und einem Teller Gebäck um die Ecke. Später schenkt er uns noch zwei der frisch gefangenen Fische. Sogar ein Tütchen Fischgewürz ist dabei.

 

Am nächsten Tag mit dem Roller die kurvenreiche Strecke bis zur Seilbahn. Ich hasse das Gefährt. Sein aggressives Knattern ebenso, wie seine kleinen Räder, die es instabil machen. „Du versuchst immer mitzulenken, dadurch kann ich den Roller kaum in der Spur halten!“ schimpft Peter. In Gedanken sehe ich uns schon über den Asphalt schlittern und gegen die Mauer prallen. Knochen brechen, die Haut hängt in Fetzen. Ist diese „Katastrophenphantasie“ normal? Gute und landschaftlich schöne, aber stark frequentierte Wanderwege erwarten uns. Die Vegetation ist durch den sauren Regen aus Tschechien stark geschädigt. „Wie war das mit einfach statt komplex?“ frage ich Peter resigniert.

 

Wandern scheint in Polen eine beliebte Freizeitbeschäftigung zu sein. Obwohl erst Ende Mai, brennt die Sonne erbarmungslos. Die Leute lösen das Problem recht unkonventionell: Sie ziehen aus, was stört. Es begegnen uns Männer mit freiem Oberkörper, Kinder in Unterhosen und Frauen in Slip und BH. Fasziniert schaue ich den Damen nach, die in zierlichen Pantoletten die teilweise steilen Aufstiege bewältigen. Wir lassen es langsam angehen und machen eine moderate Tour von zwölf Kilometern. Trotzdem sind wir völlig erledigt, als wir am frühen Abend auf den Campingplatz zurückkommen.

 

In der Nacht plagen uns Sonnenbrand und Muskelkater und am nächsten Morgen erwacht Peter mit Schüttelfrost und Fieber. Trotz Bettruhe, Tee und homöopathischen Globuli sinkt seine Körpertemperatur nicht. Auch am darauffolgenden Tag tun ihm noch alle Knochen weh und er will nur schlafen. Besorgt erwäge ich, nach einem Arzt zu fragen und schlage im Wörterbuch die entsprechenden Vokabeln nach. Lekarza, boli glowa, mam goraczke, oparzenie sloneczne. Mit gerunzelter Stirn schreibe ich die Wörter auf und versuche sie dabei auszusprechen. Plötzlich steht Peter neben mir: „Ich hab´ Hunger!“ Erleichtertes Lachen. Es geht ihm besser! 

 

Wir gönnen uns ein paar Tage Ruhe bevor wir weitere Wanderziele ansteuern. Im Heuscheuergebirge locken bizarre Felsformationen. Mit etwas Phantasie kann man Affen, Hasen oder einen Pilz erkennen. Peter keucht die sechshundert Stufen hoch. So ganz fit fühlt er sich doch noch nicht. Die Hohe Tatra bietet viele attraktive Wandermöglichkeiten mit allen Schönheiten eines Hochgebirges. In den kleinen Dörfern leben noch Goralen in ihren kunstvoll verzierten Holzhäusern. Diese kleine, ethnische Volksgruppe konnte sich einen Teil ihrer eigenständigen Kultur in Form ihres Dialektes und ihrer farbenfrohen Trachten bewahren. Außerdem produzieren sie einen köstlichen, geräucherten Schafskäse, mit dem wir uns gleich eindecken. Mit der Seilbahn fahren wir auf den populärsten Berg Polens, den Kasprowy Wierch und wandern dort am Kamm entlang.

 

Besser gefallen uns aber die malerischen Seitentäler. Der Legende nach ist der faszinierende See Morskie Oko, Meeresauge, mit dem Mittelmeer verbunden. Eingebettet in eine schroffe Hochgebirgslandschaft leuchtet er heute nicht wie im Reiseführer beschrieben smaragdgrün, sondern hüllt sich in zarte Nebelschleier. Wem die zwanzig Kilometer zu weit sind, kann die Strecke auch ganz oder teilweise mit einer Kutsche zurücklegen. Wir haben Kaffee, Wasser, Brote, Eier und Tomaten eingepackt und machen auf einem der hübsch angelegten Rastplätze eine ordentliche Vesper. Über Nacht bleiben wir mit unserem Reisemobil auf dem Wanderparkplatz, die Ruhe und würzige Waldluft genießend. Tagsüber Hochbetrieb, nun ganz allein. Über uns ein Sternenhimmel, wie ich ihn lange nicht gesehen habe. Nachdenklich sagt Peter: „So langsam wird mir die Endgültigkeit unserer Entscheidung bewusst.“ Ich frage nicht, ob er das positiv oder negativ meint.

 

 

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