Mongibello

 

 

November. Nach ein paar Tagen Regen wieder azurblauer Himmel. Kühl, aber sonnig. Spontan entschließen wir uns zu einer kleinen Rundreise. Wollen endlich auf den Ätna und an die felsig-pittoreske Nordküste. Schon so oft auf Sizilien und so vieles noch nicht gesehen. Neugierig bin ich auf den Bergkoloss. Dank des Buches von Ralph Giordano „Sizilien, Sizilien“. Kein Reiseführer hat das bisher geschafft. Stets zögerte ich: „Eigentlich müsste man ja mal hoch, aber der Touristenrummel!“ Nun ahne ich: „Da muss noch mehr sein. Eine ganz besondere Ausstrahlung des Berges.

 

Zwischenstation in Enna. 2005 waren wir schon mal hier oben. Auf 900m, bei Regen, Nebel und Wind. Das Thermometer zeigte damals um die 0°. Die für Reisemobile moderate Zufahrt zum Castello finden wir diesmal nicht. Also, mitten durch die engen Gassen, haarscharf an Balkonen und Treppen vorbei. Gut, dass noch Mittagspause ist. Würden hier parkende Autos stehen, kämen wir nicht durch. Peter nimmt es gelassen, kurvt entspannt durch die engen Häuserschluchten. Ich dagegen bin verkrampft und halte jedes Mal die Luft an, wenn das Fahrzeug wieder mal nur knapp an einer Laterne vorbeirollt. Endlich oben angekommen. Wieder ist es ungemütlich kalt, (wo habe ich bloß die Handschuhe verstaut?), aber wir werden mit einer herrlichen Aussicht belohnt. Heftiges Stürmen in der Nacht. Raus aus den Betten und auf die andere Seite, in den Windschatten der Burg, fahren.

 

Am nächsten Morgen nehmen wir die uns bekannte Umgehungsroute hinunter Richtung Autobahn. Sperre nach 200 Metern wegen Bauarbeiten. Die Umleitungsstraße, der wir nun wohl oder übel folgen müssen, wird immer enger und mündet schließlich in einem Knäuel an kleinen, nach allen Seiten abgehenden Gässchen. Links und rechts parkende Autos, Fahrzeuge hinter und vor uns. Aus mehreren Seitengassen zwängen sich weitere Wagen dazwischen. Nun geht gar nichts mehr. Ich steige aus, frage den Fahrer hinter uns: „Autostrada?“, zeige in alle Richtungen und zucke mit den Schultern. Er hat unser Dilemma wohl verstanden und antwortet mit einem Redeschwall. Als er mein verständnisloses Gesicht sieht, wiederholt er das Ganze. Immer wieder machen wir die Erfahrung, dass Sizilianer zwar mit den Händen reden, aber selten fähig sind, etwas mit anschaulichen Gesten zu erklären. Irgendwie verstehe ich dann doch, dass wir ein Stück vorrollen sollen, um ihn vorbei zu lassen. Er würde dann bis zur Autobahn vorausfahren. Und so geschieht es. Noch zwei, drei heikle Engpässe, dann sind wir wieder auf einer „zivilisierten“ Straße. Immer wieder begegnet sie uns auf Sizilien, diese ganz selbstverständliche, zwanglose Hilfsbereitschaft.

 

 

Schon von weiten kann man ihn sehen. Ganz klar hebt sich heute seine schon schneebedeckte Spitze vom blauen Himmel ab. Von einer Rauchwolke umgeben. Der Ätna oder Mongibello, wie ihn die Sizilianer nennen. Der Name leitet sich aus dem italienischen und arabischen Wort für Berg ab, heißt also eigentlich Bergberg. Über 3.300 m hoch und vulkanisch sehr aktiv. Wir fahren die Autobahn bis kurz vor Catania. Blicken auf Orangenhaine, Baumschulen, Oliven- und Obstbäume. Saftig grün. Dann weiter Richtung Nicolosi. Wieder durch quälend enge, verkehrsreiche Städtchen. Kurz vor Mittag, Hochbetrieb. Endlich außerhalb städtischen Treibens. Hinauf zum Ätna, von Süden her, auf der neuen, breiten, von Schneestangen gesäumten Straße. Mauern aus Lavasteinen statt Leitplanken. Liebesglück und –leid darauf verewigt: „Simone, ich liebe dich.“ „Giuliana, komme zurück zu mir.“ „Maria hat eine unglaubliche Figur.“

 

50 Millionen Kubikmeter Lava, 1.000 Grad heiß, wälzte sich beim Ausbruch 2001 den Südhang hinunter in Richtung Nicolosi, überflutete Parkplätze, zerstörte die Seilbahn. Nun ist alles wieder aufgebaut. Bis zum nächsten Mal. Unter uns eine Landschaft aus grünen, bewaldeten Hügeln. Gut zu erkennen, die kleinen Nebenkrater, die, nah bei den Siedlungen, den Menschen gefährlich werden können. Links und rechts der Straße Lavafelder. Schwarz. Bedrohlich. Bizarr aufgetürmt zu Spitzen, die sich gegen den tiefblauen Himmel abheben. Geisterschlösser. Raben. Totenköpfe. Dazwischen Inseln aus Schnee. Baumleichen strecken ihre grauen Äste aus. Inmitten des erstarrten Infernos wurden mutig schmucke neue Häuschen gebaut. Daneben stehen noch die alten, begraben unter dem glühenden Strom. Hier und da lugt ein Dach hervor, das der steinernen Umarmung trotzt. Lava überall. Aus der Ferne wie frische, feuchte Erdschollen, umgegraben von einem Riesen. Aus der Nähe, hartes, raues, poröses Gestein. Für Jahrzehnte unfruchtbar. Danach aber üppiges Wachstum auf mineralstoffreichem Boden. Eichen und Kastanien. Pinien und Buchen. Das zartgelbe Herbstkleid der Birken hebt sich filigran von der groben Steinflut ab. Ginster, so groß wie Bäume. Den würde ich gern zur Blüte sehen. Unser Reisemobil schnauft die Serpentinen nach oben. Zweiter Gang, mehr geht nicht. Auf einem Parkplatz gönnen wir ihm und uns eine kleine Pause. Schnell weiter, vielleicht können wir heute noch hoch auf den Riesen. Seilbahnstation auf cirka 2.500 m Höhe. Enttäuschung, der Betrieb ist für heute wegen des starken Windes eingestellt. Klar und sonnig, aber empfindlich kalt ist es hier oben. Unten liegt Catania und das Meer im Dunst einer Inversion. Über der Ebene schwebt ein gerades Wolkenband, wie mit dem Lineal gezogen. Ein Cabrio mit offenem Verdeck fährt auf den Parkplatz, der Fahrer dick in einen Pelz eingemummt. Welch grandioser Ausblick in der Nacht. Catania strahlt. Flimmernd, flackernd. Laternen zeichnen den Straßenverlauf nach und geben dem Bild Struktur. Hier und dort gruppieren sich Leuchtpunkte zu Inseln. Manche Lichter strahlen heller als andere. Es ist fast wie der Blick in den Sternenhimmel.

 

Am nächsten Morgen hat sich der Wind gelegt und wir nehmen die erste Seilbahn. Dann mit etwa fünfzehn weiteren deutschen Touristen hinein in den geländegängigen Kleinbus. Holpernd geht es im 1. Gang nach oben. „Dort drüben liegt Taormina und ganz dort hinten Italien!“ klärt uns der sizilianische Fahrer auf. Wir sind die einzigen Fahrgäste, die über den Scherz lachen. Der Berg ist riesig. Gipfel, Kuppen, Lava- und Schneefelder soweit man schaut. Mit Schnee gefüllte Fußstapfen ziehen sich wie Perlenschnüre über die schwarze Lava. Völlig mit Schnee bedeckt ragt rechts von uns eine rundliche Erhebung aus der schwarz-weißen Fläche. Um sie herum führt ein Wanderpfad, zerstört ihre sonst unberührte, glatte Oberfläche. Eine Narbe in einem ebenmäßigen Gesicht. Bis auf 2.950 m fahren wir hoch, weiter geht es derzeit nicht. Blick auf die Südspitze des Ätnas, der aus mehreren Kratern raucht. So friedlich wirkt er heute. Morgen vielleicht schon wieder das feuerspeiende Ungeheuer. 

 

 

Lärmend wie Kinder, die Touristen. Sie machen die obligatorischen Bilder: Erst Mutti vor Ätna und dann Papa vor Ätna. Dabei zittern sie vor Kälte in ihren viel zu dünnen Jacken. Eine Dame stakt sogar mit offenen Schuhen im Schnee. Wir tragen lange Unterhosen, Handschuhe, Mützen und dicke Schals und genießen die klare, frostige Luft. Lange bittet der Bergführer vergeblich, ihm zu folgen. Endlich sind alle Fotos im Kasten und die Schneeballschlachten entschieden, so dass die Leute nun erwartungsvolle Blicke auf den Bergführer richten. Der verspricht uns einen kleinen Spaziergang zu einer etwas wärmeren Stelle, nämlich an den Rand eines Kraters. Gefährlich glatt ist der vereiste Schnee. Trotz fester Schuhe laufe ich wie auf Eiern. Nachdem mein Steißbein vom Rollersturz, mein Knöchel nach der letzten Verstauchung, mein linker Arm und mein rechtes Knie immer noch schmerzen, kann ich mir keine weitere Verletzung leisten. Neben mir rutscht ein Mann aus und fällt hart auf den rechten Arm. Schmerzverzerrtes Gesicht. „Hast du dir weh getan?“ fragt ihn seine Frau. „Nö, nö“, antwortet er. Ein Indianer kennt eben keinen Schmerz.

 

Aus dem Krater raucht es ein wenig und es riecht nach Schwefel. An den Steinen an seinem Rand kann man sich die Hände wärmen. Fantastische Aussicht. Um ehrlich zu sein, kann ich sie nicht so ganz genießen, denn Höhenangst kommt in mir auf. Noch weit vom Abgrund entfernt, und trotzdem werden meine Knie weich. Schwindel. Peter stellt sich an den Rand des Kraters und fotografiert. „Geh nicht so nah an den Abgrund! Das Gestein ist doch völlig porös und rutschig!“ rufe ich ihn panisch zurück. Horrorbilder steigen in mir auf. Wie Peter im losen Lavageröll den Hang hinunterrutscht, unaufhaltsam auf die Krateröffnung zu. Wie er versucht, sich festzuhalten, aber immer wieder den Halt verliert. Um dann im Krater zu verschwinden. Ich glaube, ich habe zu viel ferngesehen! „Meinst du, wir können zurückgehen. Mir ist so schwindlig?“ Von meinem Film im Kopf erzähle ich ihm lieber nichts. „Aber klar doch. Wir haben ja auch alles gesehen.“ Ich atme auf.

 

Richtung Zaffarana die steilen Serpentinen hinunter. Nicht mehr ganz so gepflegt. Auf den Parkplätzen wieder Müll. Kräftiger Bewuchs auf der hier schon älteren Lava. Schafe wirken wie weiße Kugeln auf dem schwarzen Gestein. Zahnlos lächelnd kommt der Schäfer angeschlurft, bittet um eine Zigarette. Weiter durch enge Gassen. Erste Weinreben. Milo feiert St. Martin. Dunkler Eichenwald, der immer wieder kurze Durchblicke zum Ätna zulässt. Tiefhängende Äste zwingen uns, auf der Mittellinie zu fahren.  Birkenstämme säumen nun die Straße, strahlen in einem unglaublichen Weiß. Dazwischen Grasbüschel und schwefelgelbe Flechten. Dann wieder eine breite Schneise der Zerstörung. Riesige Bäume weggeknickt, begraben unter der dicken Gesteinsschicht. Beim Ausbruch 2002 ergossen sich Lavaströme sowohl den Süd- als auch den Nordhang hinunter. 

 

Auf der Nordseite des Berges nehmen wir die weiter talwärts verlaufende Straße zwischen Linguaglossa und Randazzo. Üppiges Grün. Wein, Oliven, Obst, Gemüse. Das Terrain in Terrassen angelegt, mit Mauern aus Lavasteinen abgestützt. Gepflegte Häuser, die Fassaden in frischem Gelb oder Rosa gestrichen. Der Boden ist hier fruchtbar, aber hart. Während im übrigen Sizilien überwiegend Großgrundbesitzer ihr Land durch kurzfristig wechselnde Pächter bearbeiten lassen, gibt es rund um den Ätna viele Eigentümer kleiner Parzellen. Heute übernachten wir sehr idyllisch auf einem Weingut, inmitten der Reben, mit Blick auf den nördlichen Gipfel des Ätna.

 

Über das Nebrodi-Gebirge in Richtung Nordküste. In der Morgensonne die Silhouette Randazzos mit seinen Kirchtürmen vor dem gleißenden, schneebedeckten Ätna. Es folgt eine Idylle wie in den Alpen. Grüne Hügel vor schroffen Bergen. Kühe, Schafe, Ziegen. Wahre Kletterkünstler auf den steilen Hängen. Der Hirte ist im Geländewagen unterwegs. Dann herbstlicher Laubwald, man fühlt sich wie daheim. Im nächsten Tal so weit das Auge reicht nur farnbewachsener Boden. Jetzt rostrot und trocken. Auch hier Kühe an den unmöglichsten Stellen. Enge Schluchten. Abenteuerliche, kurvige Straßen schlängeln sich an Steilhängen entlang, teilweise ohne Leitplanken. Meine Höhenangst meldet sich wieder. Inmitten der beeindruckenden Landschaft wilde Müllkippen. Es ist nicht zu fassen! Etwas würdelos wirken die Korkeichen, mit ihren bis zur Hälfte geschälten Baumstämmen. Unter den Olivenbäumen liegen die Netze, bereit für die Ernte. Immer öfter blitzt das Meer zwischen den Bergkuppen auf. Nun ist es nicht mehr weit bis zur Küste.

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